Wenn man aus einer Großstadt wie Wien in ein Nest mit 19 000 Einwohnern kommt, dann hat man natürlich einen speziellen Blick für Eigentümlichkeiten, die den Einheimischen gar nicht mehr auffallen. So war es auch bei dem österreichischen Autor Franzobel, der seit Juni einen Zweitwohnsitz in der mittelfränkischen Kleinstadt Weißenburg hat. Er wunderte sich zum Beispiel darüber, dass viele Häuser in der Altstadt nicht direkt aneinander gebaut wurden, sondern durch extrem schmale Gassen voneinander getrennt sind. Und dass diese Hauszwischenräume oftmals mit einem Türchen versperrt werden. Skurril fand er auch Deutschlands vermutlich kürzeste Fußgängerzone, die genau von einer Seite des Alten Rathauses bis zur anderen reicht - das mögen fünfzehn Meter sein. Doch insgesamt fällt Franzobels Urteil recht begeistert aus. "Ein bezauberndes Städtchen mit schönen Fachwerkhäusern, belebter Innenstadt und funktionierender Gastronomie" sei Weißenburg. Die Landschaft erinnere ihn an Oberösterreich, sagt er - "nur dass am Horizont der Gebirgszug fehlt". Fast heimisch könnte sich Weißenburg also anfühlen, wenn dieser Dialekt nicht wäre. Mit dem, sagt der Österreicher, tue er sich doch schwer. Was nicht an den Wörtern liege, sondern an der sehr speziellen Betonung der Konsonanten. Es sei ein bisschen so, als würde er eins seiner Stücke in einer Fremdsprache anschauen. Sehr vertraut und doch fremd.
Über seine quasi ethnologischen Beobachtungen schreibt der bekennende Großstadtmensch, der normalerweise in Wien lebt, eine Kolumne im Weißenburger Tagblatt. Franzobel, der eigentlich Franz Stefan Griebl heißt, stellt dort Vermutungen an, was es mit den Hauszwischenräumen auf sich hat ("Katzenklappen für hochwüchsige Haustiere? Geheimverstecke? Fluchtwege?") und teilt die eher banale Erklärung des Oberbürgermeisters mit seinen Lesern: "Da hat man früher den Unrat hinausgekippt, der dann auf die Straße gespült worden ist." Selbst eigentlich kein Freund fleischlastiger Küche, singt er ein Loblieb auf die fränkische Bratwurst. Er philosophiert über die Namen, die auf den Grabsteinen des Weißenburger Friedhofs zu lesen sind und fragt sich, wozu es all die Bekleidungsläden in der Altstadt braucht.
Die wahre Mission des Schriftstellers aber ist eine andere. Denn Franzobel ist der erste Stadtschreiber von Weißenburg. Die Stadt setzt sich dabei vom üblichen Modell ab, meist handelt es sich ja um ein reines Stipendium: Ein Literat darf einige Monate umsonst wohnen, muss dafür ein paar Veranstaltungen absolvieren, kann sich aber sonst aufs Schreiben eines beliebigen Werkes konzentrieren. Auch Franzobel hat solche Stipendien schon angenommen. Diesmal aber soll er in Weißenburgs Geschichte nach einem theatertauglichen Stoff suchen und dann ein Stück schreiben, maßgeschneidert für das Bergwaldtheater, eine enorme Freilichtbühne mit vielen Bäumen, Treppen und Felsen.
Gerade dieser Auftrag habe ihn gereizt, sagt der Dramatiker: Ein Stück für eine große Produktion zu schreiben, das Publikum von München bis Nürnberg in die Provinz locken soll. Etwas Ähnliches hat Franzobel schon einmal gemacht, zusammen mit dem Regisseur Georg Schmiedleitner. "Hunt oder der totale Februar" hieß das Stück, es wurde 2005 mit Laiendarstellern, Chören und Musikkapellen aus der Region, unterstützt von professionellen Schauspielern, auf die Bühne des oberösterreichischen Theaters im Hausruck gebracht. Bei Kritikern und Publikum war das Projekt ein Riesenerfolg. "Das ist etwas, was ich gerne wieder probieren würde", sagt Franzobel. Dass es diesmal auch noch ein lokaler Stoff sein soll, empfinde er als zusätzlichen Reiz. An dem Ort zu sitzen, an dem die Handlung spielt, "das bekommt eine besondere Aura."
Die Idee, einen Stadtschreiber nach Weißenburg einzuladen, kam von einer kleinen Gruppe "Kultur-Irrer". So jedenfalls nennt der Weißenburger Buchhändler Matthias Meyer sich und seine Mitstreiter. Das sind neben ihm vor allem ein Kulturredakteur und ein kulturinteressierter Unternehmer. Man habe im vergangenen Jahr zusammengesessen und ein bisschen herumgesponnen, erzählt Meyer. Am Ende stand der Entschluss, es einfach mal "mit der Champions-League" zu probieren. Drei oder vier namhafte Dramatiker habe man angefragt - und war erstaunt, als Franzobel sich bald darauf nicht nur meldete, sondern auch noch zusagte.
Der Kulturausschuss der Stadt ließ sich ob des prominenten Namens schnell für das Projekt begeistern. Nun ist die Stadt Vertragspartner des Stadtschreibers und stellt ihm eine Wohnung zur Verfügung. Das Honorar für den dreimonatigen Aufenthalt übernimmt die literaturfördernde Wilhelm und Christine Hirschmann-Stiftung aus Treuchtlingen.
Anders als geplant, war der Stadtschreiber bisher allerdings häufig abwesend. Sein Roman ist um einiges erfolgreicher, als er erwartet hat,nun muss er auf Lesereisen gehen und kann immer nur für ein paar Tage in Franken vorbeischauen. In Weißenburg ist man darüber aber nicht verärgert, im Gegenteil, man freut sich über den Ruhm des Stadtschreibers. Stolz registrierten viele Bürger, die sich bisher vermutlich wenig für die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt interessiert hatten, dass "ihr Franzobel" dort in diesem Jahr die Eröffnungsrede halten durfte. Das soll ja eine große Ehre sein. Und was das Weißenburger Projekt angeht, wurde inzwischen vereinbart, dass Franzobel seinen Aufenthalt in den Herbst hinein verlängern wird.
Der Schriftsteller hat sich inzwischen schon durch einen Großteil der Weißenburger Geschichte gelesen. Er hat erfahren, dass der amerikanische Schriftsteller J. D. Salinger ("Der Fänger im Roggen") nach dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit hier lebte und dass der spätere französische Präsident Charles des Gaulle im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener auf der Festung Wülzburg war, die heute zu Weißenburg gehört. Trotzdem hat er bisher den Eindruck, dass die große Weltgeschichte immer knapp an Weißenburg vorbei schrammte. Den Dreißigjährigen Krieg hat der studierte Historiker durchgeackert, die alten Römer interessieren ihn weniger. Bei langen Spaziergängen erkundet er die Stadt und ihre Umgebung. Weil viele Weißenburger ihren Stadtschreiber auf der Straße erkennen, wird ihm auch mal eine lebende Quelle ans Herz gelegt: "Über meinen Onkel müssen' S schreiben!"
Bei seinen Recherchen sei er auf einige spannende Bilder, Anekdoten und Episoden gestoßen, sagt er. Noch sei aber nicht klar, was am Ende daraus wird. Findet er einen Stoff, der ein ganzes Theaterstück trägt? Oder schreibt er ein Stück aus mehreren Episoden? Ende des Jahres soll das Werk fertig sein. Wenn es nach dem Autor und den Kultur-Irren geht, wird die Stadt dann einen namhaften Regisseur engagieren, um es auf die Bühne des Bergwaldtheaters zu bringen. Die Premiere soll im Sommer 2018 sein.