Bagatell-Anzeigen in Bayern:Die Polizei und das rohe Ei

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Nacktläufer, Bubenstreiche, Fallobstdiebstahl und Streit über laute Musik: Die Beamten müssen immer öfter wegen Kleinigkeiten ausrücken. Die Bagatell-Anzeigen türmen sich.

Ronen Steinke

Ob ein solcher Anruf ernst gemeint ist, der nachts bei der Polizei eingeht, kann man durchaus nicht sicher wissen. Eine ganze Gruppe junger Männer paradiere da gerade splitternackt an ihrem Fenster vorbei, teilte eine erregte Veldenerin jüngst mit. Polizeibeamte rückten aus, ermittelten, dass die örtlichen Fußballer so ihren Aufstieg gefeiert hatten, konnten die Anruferin beruhigen - und sich bald schon wieder anderem widmen. Zur ihrer Erleichterung.

Nacktläufer und andere Bagatellfälle halten zunehmend auch in Bayern die Polizei auf Trab. (Foto: DPA/DPAWEB)

Denn im Sommer türmen sich in ganz Bayern wieder die Bagatell-Anzeigen, müssen sich die Beamten neben ihrer ernsthaften Arbeit zunehmend auch mit jugendlichen Eier-Streichen befassen, mit angeblichem Fallobst-Diebstahl oder mit verbalen Frechheiten unter Nachbarn. So wie in Markt Schwaben östlich von München. Dort gibt eine Tat, auf deren Aufklärung die Betroffene beharrt, der Polizei Rätsel auf. Den Tatort, die Seilergasse in Markt Schwaben, kennt sie immerhin bereits, die Tatzeit auch: Irgendwann zwischen dem 30.April und dem 2. Mai muss es gewesen sein. Aber wer es nun war, der in den Briefkasten einer 68 Jahre alten Anwohnerin ein rohes Ei hineinzwängte, das dann zerbrach, sein Inneres der jahreszeitlichen Hitze preisgab und damit ein Ärgernis anrichtete? Fest steht nur: Die zuständige Polizei, die eine Strafanzeige der Anwohnerin aufnahm, "gegen Unbekannt", wie es in solchen Fällen heißt, konnte keinen Schaden an den Briefen feststellen, ebenso wenig am Briefkasten selbst. Der Schaden bestand darin, dass die Frau ihren Briefkasten auswischen musste. Sachschaden: null Euro.

Das ist weniger als jene 15 Euro Sachschaden, die ein unbekannter Dieb vor Kurzem im selben Ort durch die Entwendung einer Fahrradlampe verursachte. In derselben Straße übrigens, wo in der Woche zuvor eine Dame angab, von zwei Jugendlichen für die Dauer eines kurzen Gesprächs verbal "belästigt" worden zu sein - was zwar nicht zu einem weitergehenden Schaden führte, aber trotzdem zu einer weiteren Strafanzeige. Auch in diesen beiden Kriminalfällen nehmen die Beamten derzeit pflichtschuldig Hinweise entgegen, bislang erfolglos.

Die ohnehin überlastete Polizei wird gerade im Sommer, wenn Nachbarn lauter und direkter zu spüren sind, als billiger Streitschlichter eingesetzt. Spricht man mit erfahrenen Beamten, so ertönt aus Orten wie Kulmbach, Radolfzell, Herzogenaurach oder Marktoberdorf stets dieselbe Klage: Die Polizei werde heute merklich schneller gerufen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, vielleicht ja "weil die Bürger sich nicht mehr so gerne mit ihrer Nachbarschaft auseinandersetzen", jedenfalls aber zeige die Tendenz, Bagatelldelikte anzuzeigen, weiter nach oben. Denselben Eindruck haben übrigens auch Beamten im Norden der Republik, in Städten wie Nienburg, Büsum, Bremerhaven oder Waren an der Müritz.

Exemplarisch ist ein aktueller Fall vom Bodensee: Ein Hausbesitzer hatte an der Grundstücksgrenze eine Hecke gepflanzt, der Nachbar hatte sie von der anderen Seite her gestutzt, vielleicht ein wenig zu sehr - und nun haben sich die örtlichen Polizeibeamten über eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung zu beugen. Oder ein anderer Fall, der aus dem Unterfränkischen berichtet wird. Zwei Firmen teilen sich dort eine Halle, dann entbrannte ein Streit zwischen ihnen. Seitdem werden Mitarbeiter, die sich in die falsche Hälfte der Halle verirren, wegen Sachbeschädigung angezeigt.

Ein Grund dafür, dass Menschen heute schneller dazu neigen, auch bei kleineren Vorkommnissen die Polizei zu behelligen, könnte in der Demografie liegen, vermuten Kriminologen. Ältere Menschen neigen eher zum Anzeigen als jüngere - und die Gesellschaft altert. Zusätzlich, so der Forscher Johannes Kaspar von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, würden Delikte zumindest von Jugendlichen heute "weniger leicht als reine Kinderei oder Bagatelle definiert", die Toleranz nehme in diesem Bereich ab. Auch das zeigen Umfragen.

Die Schnelligkeit, mit der Bürger aufspringen und zur Polizei gehen, um einen Vorfall zur Anzeige zu bringen, ist stets auch ein Indikator dafür, wie gut sie miteinander reden - wie gut also der gesellschaftliche Kitt zwischen ihnen hält, wenn man das so nennen will - und deshalb ist der Anstieg der Bagatellanzeigen dann tatsächlich ernstzunehmen. Setzen sich zum Beispiel nach einer Prügelei auf dem Schulhof die Eltern zusammen und sorgen dafür, dass sich im Klassenzimmer die Hand gegeben wird - oder schalten sie, weil sie keinen Draht mehr zueinander finden, den Staat ein? Ein erfahrener Beamter schildert ein Erlebnis, das noch vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen sei, inzwischen aber regelmäßig vorkomme. Da rufe ein Bürger unter 110 an und sage: "Kommen Sie, bei meinem Nachbar ist die Musik zu laut." - "Haben Sie denn schon einmal dort geklingelt und das gesagt?" - "Nein, wieso?"

Gerade auf dem Land erwartet man, dass die Menschen vieles auch ohne Polizei klären können. Manche sehen genau darin auch den Schlüssel zu den guten Kriminalitätszahlen, die das ländlich geprägte Bayern im Vergleich zum Norden der Republik noch immer aufweist. Das bemerkenswerte "Nord-Süd-Gefälle" in der deutschen Kriminalstatistik sei in Wirklichkeit vor allem ein Stadt-Land-Gefälle, vermutet zum Beispiel der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer: Die Bayern trügen ihre Probleme einfach seltener auf die Polizeiwache. Wenn nun aber auch in Bayern, und selbst in Kleinstädten, deren Polizeidienststellen nachts oft nur noch mit einem Mann oder einer Frau besetzt sind, die Zahl der Bagatellanzeigen wächst? Dann zeige dies vor allem den allmählichen Wandel in Bayern, meint ein erfahrener Beamter im Süden. Auch auf dem Land gebe es inzwischen ja häufiger Neubaugebiete, würden mehr Menschen pendeln, nähme die Fluktuation und Individualität langsam zu. Und wo die Menschen ihre Nachbarn nicht mehr so gut kennen, da müsse häufiger die Polizei einspringen.

Selbst dann, wenn es, wie kürzlich im Zentrum der Stadt Ebersberg gesehen, um Vorgänge von eher geringem strafrechtlichem Gewicht geht. Dort klebt an einer Kreuzung ein verwitterter, in Folie eingeschweißter Zettel an einem Mast. "Bitte den Hundekot wieder aufräumen. Danke!!! Sonst gibt es eine Anzeige."

© SZ vom 26.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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