Anonyme Geburt:Plötzlich ein Baby

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Eine anonyme Geburt kann überforderten jungen Frauen helfen. (Foto: dpa)

Cathrin Müller hat ihre Schwangerschaft bis zuletzt verdrängt. Dann brachte die Akademikerin ihr Kind anonym zur Welt und musste sich entscheiden: das Baby behalten oder zur Adoption freigeben.

Von Heike Nieder

Als Cathrin Müller realisierte, dass ein Kind in ihr wuchs, waren es noch fünf Wochen bis zur Geburt. Die damals 21-Jährige, die in Wirklichkeit anders heißt, saß an ihrem Schreibtisch und lernte für eine Prüfung. Plötzlich spürte sie wieder diesen Schmerz im Bauch. So, als würde jemand von innen eine Kugel über ihre Eingeweide rollen. Doch an diesem Tag konnte sie das Gefühl nicht mehr ignorieren. An diesem Tag glich der Tritt gegen den Magen einem Weckruf, als sei sie abrupt aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. Wenn Cathrin Müller heute diese Szene beschreibt, tut sie das auch nach Jahren noch so präzise, als sei es erst gestern passiert. Angstzustände habe sie plötzlich bekommen, berichtet sie. "Mir wurde warm, ich hab' geschwitzt, ich hatte Panik."

Es war nicht so, dass Cathrin Müller nicht gewarnt gewesen wäre. Sechs Wochen vorher hatte sie wegen Wassereinlagerungen einen Frauenarzt aufgesucht. Der hatte sofort einen Verdacht, obschon die junge Frau trotz der sieben Monate Schwangerschaft noch gar keinen Bauch hatte. Den Befund habe sie dem Arzt erst nicht geglaubt, sagt Cathrin Müller. "Nachdem ich die Praxis verlassen hatte, bin ich zusammengebrochen." Ein Baby passte so gar nicht in das Leben der jungen Regensburgerin. Sie studierte Physik, wollte noch ins Ausland, mit ihrem Freund war sie erst wenige Monate zusammen. Sie war überzeugt, dass er kein Kind wollte. Aus ihrer Sicht blieben nur zwei Optionen: Die Wahrheit zu akzeptieren und damit die krasse Wende in ihrem Leben. Oder aber: sie zu ignorieren. Sie entschied sich für letzteres. Selbst ihrem Partner sagte sie kein Wort.

An jenem Nachmittag, als die Bewegungen ihres Sohnes sie endlich aus ihrem Dämmerzustand geweckt hatten, stieß Cathrin Müller im Internet auf Donum Vitae. Auf der Seite der katholischen Schwangerenberatungsstelle fand sie eine Telefonnummer für Notfälle. Dort rief sie an. "Das war das erste Mal, dass ich jemandem von der Schwangerschaft erzählte." Sie erfuhr vom sogenannten Moses-Projekt, einem Angebot von Donum Vitae in Bayern, in einem Krankenhaus anonym zu entbinden.

Seit 1999 haben Frauen, die sich in einer persönlichen Notlage befinden, in Deutschland die Möglichkeit, ihr Kind ohne Angabe ihrer Personalien auf die Welt zu bringen. Die Frau entbindet unter medizinischer Aufsicht in einer Klinik. Wenn sie bis acht Wochen nach der Geburt nicht widerspricht, wird das Kind zur Adoption freigegeben. Bis dahin hat sie Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Ein weiteres Angebot für Mütter, die ihr Kind anonym abgeben möchten, sind die Babyklappen. Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts haben zwischen 2000 und 2010 mehr als 650 Frauen in Deutschland anonym entbunden. Etwa 321 Babys wurden in Klappen oder anderswo abgegeben.

Doch nicht alle Frauen, die anonym entbinden, wollen ihr Kind zur Adoption freigeben. So war auch für Cathrin Müller klar, dass sie ihr Baby behalten würde. "Ich wollte mit dem Kleinen in eine andere Stadt ziehen und alle Kontakte abbrechen, zu meinem Partner, zu meiner Familie, zu meinen Freunden." Diese Vorstellung fand sie besser, als ihr Umfeld mit der neuen Situation zu konfrontieren: "Ich hatte eh das Gefühl, es läuft alles falsch. Wenn ich dann noch Ablehnung erfahren hätte, wäre das furchtbar gewesen." Ihren Plan bezeichnet sie heute, genau wie die ganze Geschichte ihrer verdrängten Schwangerschaft, als "absurd", "lächerlich" oder "verquer". Überhaupt wirkt die reflektierte Frau, Jahre nach diesem Erlebnis, selbst ungläubig über ihre Naivität von damals. "Schließlich leben wir im 21. Jahrhundert" - diese Worte fallen in einer Stunde drei Mal.

Und doch ist es ihr passiert, das, was das Klischee vielleicht eher sehr jungen Mädchen zuschreiben würde. Es ist ihr passiert, einer gebildeten, aufgeklärten jungen Frau: Sie wurde ungewollt schwanger und hat bis kurz vor der Geburt ihren Zustand nicht realisiert. "Die anonyme Geburt hat nichts mit einer sozialen Staffelung zu tun. Sie ist für jede. Sie gibt einem Sicherheit, Ruhe und Zeit", sagt sie. Das bestätigt auch die Studie des Jugendinstituts: "Die Gruppe der Nutzerinnen ist ausgesprochen heterogen." Dies betreffe sowohl das Alter der Frauen als auch deren Bildungsgrad, die wirtschaftliche Situation und die Schichtzugehörigkeit.

Cathrin Müller kann heute ungezwungen und detailgenau ihre Geschichte erzählen. Sie kann es deshalb, weil es eine Geschichte mit Happy End ist. Die junge Frau ist sich sicher: Ohne die Beratung von Donum Vitae und die engmaschige Betreuung nach der Entbindung wäre alles ganz anders gekommen. So aber spricht sie offen darüber: über den dramatischen Beginn der Geburt, als sie ihren Freund, der nichts ahnte, während der Wehen aus dem Haus schickte, um etwas zum Essen zu besorgen. Wie sie dann die Wohnung verließ mit dem Vorsatz, nie wieder dorthin zurückzukehren, wie sie mit einem Taxi in die Klinik fuhr und erklärte, sie komme über das Moses-Projekt. Wie sich eine Beraterin um sie kümmerte und sie sich dann doch entschied, ihren Partner zu informieren, der bereits voller Sorge alle Krankenhäuser Regensburgs abtelefoniert hatte. Schließlich war er bei der Geburt dabei und durchtrennte sogar die Nabelschnur.

Eine Woche blieb ihr Sohn in der Klinik - anonym. In dieser Zeit konnten sich Cathrin Müller und ihr Freund auf ihre Elternschaft vorbereiten, stets unterstützt von Donum Vitae. Heute ist Felix sechs Jahre alt. Seine Eltern sind immer noch zusammen. Zwar seien die ersten Monate schwierig gewesen, sagt Cathrin Müller, auch weil ihr Partner ihre Heimlichtuerei als tiefen Vertrauensbruch empfunden habe. Doch das ist vorbei: "Wir sind glücklich mit Felix. Wir haben uns. Das ist doch der beste Ausgang überhaupt."

© SZ vom 22.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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