Alltag in Bayern:Buchbach, 2014

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Menschen im Sägwerk, beim Friseur, in der Arztpraxis oder an der Orgel: Hans Prockl ist durch sein Dorf gezogen und hat ihr Leben dokumentiert

Von Hans Kratzer, Schwindegg

Die bayerischen Dörfer haben sich in den vergangenen Jahren radikaler verändert als in vielen langen Jahrhunderten davor. Der Fortschritt hat vom Brauchtum bis zum alten Handwerk vieles fortgerissen, was für Beständigkeit gesorgt hatte. Mit der rasanten Urbanisierung der Dörfer wuchs zwar der Wohlstand, aber die Transformation hatte ihren Preis. Viele Dörfer blähten sich durch metastasierende Neubaugebiete gewaltig auf und mutierten zu Schlaforten für Berufspendler. Hans Prockl beobachtet und dokumentiert diesen Wandel schon seit Jahrzehnten. In den 70er und 80er Jahren setzte er sich in essayistischen Dokumentarfilmen mit den landschaftlichen Veränderungen durch den Straßenbau und den Bau des Münchner Flughafens auseinander, wobei er damals noch mit Super-8-Material filmte. In dieser Ära wurde ein Filmemacher vom Kampf mit der Synchronität von Film und Ton mindestens ebenso herausgefordert wie von der Ästhetik seiner Bildsprache.

Der studierte Physiker Hans Prockl hatte 37 Jahre lang in den Ernst-Barlach-Schulen der Pfennigparade in München Mathematik, Physik und Informatik unterrichtet. Als Rentner zog er dann vor einigen Jahren hinaus aufs Land, in das kleine Dorf Wörth, das sich zwischen Buchbach und Schwindegg (Landkreis Mühldorf) an die Isen hinstreckt. Für einen Menschen, der vor Kreativität nur so sprüht, ist der Ruhestand das Allerhöchste. "Jetzt kann ich meine Zeitsouveränität voll zur Geltung bringen", sagte sich Prockl und startete ein Projekt, das auch seine eigene Integration im Dorf unterstützen sollte. Er fragte die Leute, mit denen er im Alltag zu tun hatte, ob sie sich von ihm fotografieren lassen würden. Wie früher in seinen Filmen verfolgte er den Plan, die Gegenwart zu verbildlichen, in diesem Falle die Bevölkerung und das Dorfleben der Gemeinden Buchbach und Schwindegg quasi auf dem Stand von 2014 einzufrieren.

Es gab immer wieder solche Chronisten, deren Werk im Gedächtnis geblieben ist, deren Bilder uns heute zeigen, wie die Menschen vor dem Ersten Weltkrieg gelebt und gearbeitet haben. Wanderfotografen wie Sebastian Alt in Vilsbiburg oder Ferdinand Pöschl in Käufelkofen setzten die bäuerliche Gesellschaft in Szene. Wer ihre Fotografien genau analysiert, blickt tief in die damalige Gesellschaft hinein, in ihre Zwänge, ihre Wünsche und in ihr Menschenbild.

Prockl wurde primär von August Sander (1876-1964) inspiriert, einem der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. In seiner Serie "Menschen des 20. Jahrhunderts" zeichnete Sander einen Querschnitt der Gesellschaft der Weimarer Republik. Bauern, Handwerker, Frauen und Künstler stellte er in ihrer typischen Umgebung dar, mit ihrer charakteristischen Kleidung oder auch mit ihren berufsspezifischen Attributen. Hans Prockl dokumentierte auf ähnliche Weise das Leben in seiner eigenen Umgebung. Ihm ging es aber nicht darum, die Idylle des Landlebens abzubilden, sondern die Menschen in ihrem Alltag zu dokumentieren, und zwar zu ihrem eigenen Nutzen. Herausgekommen ist eine Arbeit, die mit zunehmender Distanz einen immer größeren Wert gewinnen wird.

Dass man ihm einen roten Teppich auslegen würde, hat Prockl nicht erhofft. "Bei so einem Projekt darfst du nichts erwarten", sagt er. Erst einmal ging es darum, die Menschen zum Mitmachen zu bewegen. "Es ist nicht so, dass sie darauf warten, fotografiert zu werden. Sie reißen sich wirklich nicht darum, das ist ja schon wieder sympathisch", sagt Prockl. Ob er jetzt spinne oder ob er das wirklich ernst meine, wurde er oft gefragt. Manchmal erfuhr er abrupte Ablehnung, aber die meisten machten dann doch mit.

Die Menschen standen ihm für einen Augenblick Modell, mitten im Alltag, bei der Arbeit in der Sägemühle, im Friseurladen, in der Arztpraxis, an der Kirchenorgel und am Schreibtisch im Rathaus. Oder auch in der Küche des Wirtshauses, in der Brauerei sowie auf dem Sportplatz. Es ist eine lebendige Galerie, wie sie vor einigen Jahren auch Stefan Winkelhöfer gelungen ist, der ein Dorf in der Oberpfalz fotografiert hatte. Allerdings in Farbe, während Prockl die Bilder in einem matten Sepia-Ton gehalten hat, der das Dokumentarische unterstreicht. Es wird mehr als deutlich, welch ein Kontrastprogramm an Gesichtern ein Dorf immer noch bietet und welch eine Breite des Lebens. Immer wieder war zu spüren, dass sich Menschen nicht unvorbereitet ablichten lassen wollen. Hier die zwei Damen, die ihre Arbeitsschuhe ausziehen und schöne Halbschuhe überstreifen wollten. Dort eine Bäuerin, die ihren Mann maßregelte: "Hättst scho was anders anziehen können!" Dabei ist es genau die nicht gestellte Szene aus dem Alltag, die Prockl so fasziniert. "Die Menschen leben im Augenblick", sagt er, "ihnen ist nicht bewusst, wie interessant es ist, den Moment des Vergehens einzufrieren." Solche Bilder heben die Fotografie über die Zeit hinaus. Und sie geben den Menschen Anerkennung, weiß Prockl. "Man nimmt sie wahr, das freut doch letztlich jeden Menschen."

Hans Prockl, Menschen aus der Region Buchbach-Schwindegg, Selbstverlag, 95 Seiten, 2015

© SZ vom 21.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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