SZ-Serie: "Radl-Metropolen":Einhändig gegen die Fahrtrichtung

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Auf den Straßen Tokios dominieren die Autos. Doch immer mehr Radfahrer mischen sich darunter - und erobern sich mit Anarchie ihren Platz.

Von Christoph Neidhart

Wer in Tokio mit dem Fahrrad zur Arbeit pendelt, um Beispiel ins Regierungsviertel, der kann sich bei "Joglis" kurz umziehen. Das kleine Unternehmen im Haus des Rundfunksenders "FM Tokyo" zwischen Kaiserpalast und Parlament ist eine luxuriöse Garderobe. Sie bietet Radfahrern und Läufern Duschen, Handtücher, Schließfächer, Getränke und abschließbare Fahrradständer. Unter der Dusche finden die Nutzer kostenfreie Shampoos und Duschgels. Kunde von Joglis wird man für einzelne Tage oder im Monats-Abonnement. Allerdings wagen sich nicht viele Pendler auf die meist achtspurigen Hauptstraßen von Tokio - und so sind auch bei Joglis die meisten Kunden entweder Fahrradkuriere oder "ernsthafte Radfahrer", so nennen sich die Sportradler in ihren Profi-Trikots und auf teuren Rennmaschinen. Die große Mehrheit in Tokio pendelt nach wie vor auf der Schiene, die U- und S-Bahnen im Großraum transportieren täglich 20 Millionen Menschen.

Es wäre freilich falsch, aus den wenigen Radfahrern auf den breiten Hauptstraßen zu schließen, das Fahrrad habe in Tokio keine Bedeutung. Das Gegenteil ist der Fall. Statistiker haben errechnet, dass in keiner andern Großstadt der Welt so viele Leute mit dem Rad unterwegs sind wie in Tokio: vom Grundschüler bis zur 85-jährigen Großmutter. Tokios Hausfrauen gehen fast grundsätzlich mit dem Fahrrad einkaufen. Wenn es regnet, halten sie einen Schirm in der einen Hand, mit der anderen steuern sie durch die Straßen. Auch ein großer Teil der 20 Millionen Menschen, die mit der Bahn zur Arbeit pendeln, legen in der Früh die erste Meile mit dem Velo zurück. Oft sind das drei bis vier Kilometer von der Wohnung zum U- oder S-Bahnhof. Viele fahren ein "Mama-Chari" - so nennt man die billigen, simplen Fahrräder ohne Gangschaltung mit Lenkerkorb, die es im Supermarkt ab 80 Euro gibt.

Radfahrer im Stadtzentrum von Tokio: Insbesondere Hausfrauen und Pendler nutzen in der japanischen Hauptstadt gerne und oft das Fahrrad. (Foto: imago)

Der Begriff "Mama-Chari" erklärt sich von selbst, "Chari" heißt etwas salopp Fahrrad. Die moderne japanische Mutter, die ihre Kleinen mit dem Rad aus dem Kindergarten abholt, eines im Sitz vor dem Lenker, eines im Kindersitz hinter ihr, fährt freilich kein Mama-Chari mehr, sondern ein E-Bike. In der gleichmacherischen Gesellschaft Japans will niemand auffallen, alle Mütter einer Kindergartenklasse lenken daher den gleichen Fahrrad-Typ. Mamas Rad soll auf keinen Fall erkennbar billiger oder teurer sein als das der andern Mütter, das Kind würde sonst gehänselt.

Die Japaner legen außerdem großen Wert auf Ordnung, zumindest nach außen. Ihre Wohnungen sind dagegen eher chaotisch, schon weil sie immer zu wenig Platz haben. Das macht nichts, da sie ohnehin niemanden nach Hause einladen, das tut man nicht. Aber auch auf der Straße interpretieren sie "Ordnung" anders als ein durchschnittlicher Westeuropäer. In kaum einem andern Land schlüpfen so viele Autofahrer bei Rot noch über die Ampel, und unter diesen Rotlichtsündern sind keineswegs nur junge Männer, sondern auch viele ältere Herrschaften auf Spazierfahrt. Andererseits tippen manche Autofahrer ihre Mail auf dem Smartphone noch fertig, obwohl die Ampel längst auf Grün geschaltet hat. Sie haben auch keine Skrupel, eine enge Straße zu blockieren, um einen blühenden Kirschbaum zu fotografieren. Andererseits werden sie aber auch nicht sauer, wenn andere das tun. Oder sie zeigen es jedenfalls nicht.

Dieser Hauch einer manierlichen Anarchie manifestiert sich nirgends so sehr wie beim Radfahren. In Japan herrscht Linksverkehr, Radfahrer fahren aber ebenso oft rechts, in der Mitte, auf dem Bürgersteig und bei Rot über die Ampel. Oder sie biegen ganz ohne zu gucken von einer Seiten- in eine Hauptstraße ein. Einbahnstraßen interessieren sowieso nicht, aber das ist offiziell erlaubt. Manche Radler tippen mit einer Hand eine Mail, andere telefonieren, und das alles funktioniert auch bei Regen, denn manch ein Mama-Chari ist zuweilen sogar mit einer Schirm-Halterung am Lenker ausgestattet. Und als hätten sie eine dritte und vierte Hand, halten sie irgendwie auch noch die Einkaufstüten.

Bis vor einigen Jahren war diese sanfte Anarchie legal und die Norm. Nach einigen spektakulären Radunfällen jedoch erklärte die Polizei, sie werde die Verkehrsregeln künftig auch gegenüber Radfahrern durchsetzen. Als erstes verbot sie das Fahren auf dem Gehsteig. Damit löste sie einen Sturm der Entrüstung aus: Kann man einer jungen Mutter mit zwei Kindern in den Sitzen und Einkäufen im Korb eine dicht befahrene Straße zumuten, wenn der Bürgersteig leer ist? Oder einer Greisin, die nur noch schlecht sieht und hört? Die Polizei modifizierte das Verbot wie folgt: Wenn es zumutbar sei, gehören Radfahrer auf die Straße. Allerdings wurden zugleich manche Bürgersteige zu Radwegen erklärt. Geändert hat sich nichts: Tokios Quartierspolizisten, die ihre Patrouillen stets zu zweit auf weißen Rädern machen, fahren weiterhin auf dem Bürgersteig, auch dort, wo es keinen Verkehr gibt.

In dieser Serie beleuchtet die SZ in loser Folge die Situation des Radverkehrs in den Städten der Welt. Zuletzt erschienen: Madrid (11.8.), New York (18.8.), Moskau (25.8.). Alle Folgen auch im Internet unter www.sueddeutsche.de/stadtradler

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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