Innenstadt-Logistik:Jeder Tag Weihnachten

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Lieferverkehr in der Münchner Innenstadt: Eine Paketbotin stellt die Waren in den angrenzenden Geschäften zu. Das Paketaufkommen dürfte in Zukunft weiter steigen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Verstopfte Innenstädte, genervte Kunden und eine steigende Flut von Paketen: Nur mit neuen technischen Lösungen lässt sich der Boom im Versandhandel bewältigen.

Von Joachim Becker

Paket findet Kunde - so sieht das Happy End einer modernen Beziehungskiste aus. Kleinere Hindernisse inklusive: In Zeiten der digitalen Kaufrausch-Therapie wechseln die Kunden zum Beispiel ständig ihren Aufenthaltsort - und das Objekt ihrer Begierde. Immer neue Kleinbestellungen machen die Belieferung der Großstadtnomaden mittlerweile so aufwendig, dass angestammte Kurier-, Express- und Paket-Dienste (KEP) an ihre Grenzen kommen. Boomende Internet-Plattformen wie Amazon müssen daher eine eigene, hoch automatisierte Lieferkette aufbauen. "Die steigenden Volumina sind mit unseren vorhandenen Partnern wie DHL alleine so auf Dauer nicht mehr zu stemmen", erklärt Bernd Gschaider, Leiter Logistik Amazon Deutschland. Es geht aber nicht nur um Masse, sondern vor allem um Klasse: Immer mehr Kunden beschweren sich über schlechten Service. "Deshalb bauen wir eigene Kapazitäten mit neuen lokalen Partnern auf. Der Amazon-Beitrag ist die Vorbereitung der Lieferung und die Routenplanung. Da steckt immenses Potenzial, weil unser System ständig dazulernt."

Vom Slogan "Schrei vor Glück oder schick's zurück" bleiben am Ende ein Haufen Retouren

Über den Sinn und Unsinn des dauershoppenden Individuums mögen sich andere den Kopf zerbrechen. Die logistischen Herausforderungen sind sowieso spannender als die bestellten Produkte. Vom Slogan "Schrei vor Glück oder schick's zurück" bleiben am Ende ein Haufen Retouren. Entscheidend ist erst einmal das perfekte Liefererlebnis: "Der Kunde sagt uns nicht nur, was er bekommen will, sondern auch wie er es bekommen will", so Gschaider. Die Lieferkette werde zu einer Nachfragekette: "Dieser Wechsel wird für alle Logistik-Dienstleister immer wichtiger." Bestellt wird mit ein paar Finger-Tipps, wo immer das Smartphone Empfang hat: auf der Couch, im Büro oder im Café. Geliefert wird möglichst sofort zur Abholstation an der Tankstelle, zum Lieblings-Italiener oder in den Autokofferraum. Seit dem Jahr 2000 hat sich das Liefervolumen in Deutschland auf 3,35 Milliarden Sendungen pro Jahr nahezu verdoppelt. Laut der KEP-Studie 2018 sollen es 2022 schon 4,3 Milliarden Sendungen sein. Das wären pro Tag mehr als zwölf Millionen Pakete. Für die Zustellung jedes einzelnen Pakets werden nach Berechnungen der Deutschen Post ungefähr 500 Gramm Kohlendioxid freigesetzt. Schon heute stößt die Fahrzeugflotte der Paketdienste hierzulande so viel Klimagase aus wie ein Pkw, der 500 Mal um die Erde fährt - jeden Tag. Die Belastung der Innenstädte sei gar nicht so groß, hält Florian Gerster dagegen: Bundesweit seien gerade einmal gut 140 000 KEP-Fahrzeuge unterwegs. "Das sind 0,3 Prozent des gesamten Kraftfahrzeugbestands in Deutschland", so der Vorsitzende des Bundesverbandes Paket und Expresslogistik. Trotzdem droht die Akzeptanz für das traditionelle Liefermodell zu kippen. Nicht nur wegen der Lärm- und Abgasbelastung durch Diesel-Transporter, die oft mitten auf der Straße stehen. Immer weniger Nachbarn sind auch bereit, mehrmals am Tag ein Paket für andere Hausbewohner anzunehmen.

Ohne eine effizientere und umweltfreundlichere Logistik wird der Versandhandel von seinem eigenen Erfolg ausgebremst. Mit hundert elektrisch betriebenen eVito-Transportern, die Amazon zu Testzwecken von Mercedes übernimmt, ist es nicht getan. Auf der IAA Nutzfahrzeuge, die vom 20. bis 27. September in Hannover stattfindet, werden alternative Antriebe und urbane Logistik im Mittelpunkt stehen. Bisher findet die Revolution aber nur auf dem Messestand und nicht in der Praxis statt. "Neue Technologien werden im leichten Nutzfahrzeug meist erst dann eingeführt, wenn sich diese im Pkw bereits bewährt haben", so Bernd Mattes, Präsident des Autoverbands VDA. Viel Zeit bleibt nicht, die Flotten zumindest teilweise auf Elektroantrieb umzustellen: "Eine weitere Absenkung der CO₂-Flottenwerte um minus 30 Prozent bis 2030 ist schon für Pkw sehr ehrgeizig, für leichte Nutzfahrzeuge ist dieser Wert nicht mehr realistisch." Damit geht Mattes auf direkten Konfrontationskurs zur EU-Klimapolitik.

Die Logistikbranche scheut Investitionen, weil der Transportmarkt nur geringe Margen abwirft. Zudem fehlt Knowhow: Branchen-Riesen wie der Container-Spediteur Maersk arbeiten zwar zusammen mit IBM an neuen Blockchain-Konzepten für papierlose Verträge. Insgesamt kommt die Digitalisierung aber nur schleppend voran. In lediglich 26 Prozent der befragten Unternehmen gibt es konkrete Anwendungen mit selbstlernenden Systemen, das zeigt eine aktuelle Umfrage des Software-Unternehmens Inform zusammen mit dem Fachmedium Logistik Heute. Genau in diese Technologie-Lücke drängen IT-Giganten wie Amazon, für die digitale Prozessverbesserungen alltäglich sind. Die Amerikaner kanalisieren die Paketflut in elf deutschen Logistikzentren, darunter allein drei Neueröffnungen in diesem Jahr. Entscheidend ist auf den jeweils zehn bis 20 Fußballfelder großen Arealen nicht nur der Waren-, sondern auch der Datenverkehr: Fahrende Transportroboter und lernende Lieferalgorithmen "bauen" ein Kunden-individuelles Zustellungsmodell. "Wir setzen viele Automatisierungs-Techniken ein, die in der Automobilindustrie schon lange erprobt wurden", sagt Bernd Gschaider. Entsprechend teuer ist so eine Warenumschlagfabrik. Im Fall des neuen Fulfillment Centers in Winsen bei Hamburg hat sie 90 Millionen Euro gekostet. Täglich liefern dort mehr als 100 Lkw neue Ware an. Erstmals in Deutschland werden autonom fahrende Transportroboter eingesetzt. Die gelben, mannshohen Drive-Units wiegen 145 kg. Weil sie weniger Gangfläche zwischen den Regalen benötigen als Menschen, sparen die Hightech-Maschinen trotzdem Geld.

Die 1700 Logistikmitarbeiter in Winsen sind Assistenten des supersmarten Computerleitsystems. Das ist im Prinzip nicht anders als bei der Fließbandfertigung von Autos. Trotzdem hinkt der Vergleich, denn festangestellte Logistikmitarbeiter verdienen bei Amazon nach zwei Jahren 12,22 Euro brutto pro Stunde - deutlich weniger als Facharbeiter in den Fahrzeugfabriken. Vertrösten soll sie der Amazon-Slogan an der Wand: "Work hard. Have fun. Make history." Tatsächlich sind beide Branchen dabei, Geschichte zu schreiben: IT-Firmen wie Amazon werden wohl zu den Erstanwendern von Roboterautos gehören.

Logistikzentren arbeiten hoch automatisiert wie Autofabriken. Nur die Bezahlung ist schlechter

"Wir erwarten, dass sich das automatisierte Fahren auf Werks- und Logistikgeländen, in Hafenarealen oder in der Landwirtschaft zuerst durchsetzen wird", so der ZF-Vorstandsvorsitzende Wolf-Henning Scheider. Als Hersteller von Nutzfahrzeuggetrieben und speziellen Achslösungen ist ZF mit der Transportbranche eng verbunden. Der Systemlieferant baut Elektronik-Komponenten selbst und will mit dem Supercomputer ZF Pro AI auch beim autonomen Fahren vorne mitspielen: Die kleine Silberbox für kommerzielle Anwendungen ist 1000 Mal leistungsfähiger als die Rechner von herkömmlichen Abstandstempomaten (ADAS). Auf den Betriebshöfen von Transportunternehmen soll der kleine Kobold schon bald Zugmaschinen wie von Geisterhand lenken und den Ladevorgang komplett automatisieren.

Das Geschäftsmodell ähnelt dem von Robotertaxis: Im kommerziellen Dauereinsatz amortisieren sich die teuren vollautonomen Systeme viel schneller als bei Privatkunden. Auf nicht-öffentlichen Betriebshöfen haben Logistiker den Vorteil, dass sich Störungen durch Fußgänger oder Tiere weitgehend ausschließen lassen. Wiederkehrende Operationen und die geringe Komplexität des Umfelds erlauben laut Wolf-Henning Scheider einen schnellen Einsatz von fahrerlosen Systemen. Beweisen sie ihre Funktionssicherheit und Einsparungspotenziale, werden sich auch traditionsorientierte Logistikunternehmen schnell überzeugen lassen.

Im urbanen Umfeld ist die Automatisierung zwar schwieriger, grundlegend unterscheidet sich der Transport von Waren und Menschen dort aber nicht. Dieser Logik folgen ZF und die Ego Move GmbH: In einem Joint Venture wollen sie nächstes Jahr die Serienfertigung von selbstfahrenden Kleinbussen und Transportern auf derselben Plattform starten. Ein Kopf dahinter ist der Aachener Professor Günther Schuh. Er wurde als Initiator des Streetscooter-Projekts bekannt: Den emissionsfreien Kleintransporter verkaufte er 2014 samt Produktionskonzept an die DHL. Der Paketdienst wollte schon damals Sendungen klimaneutral zustellen; praxisgerechte E-Lieferwagen waren jedoch Mangelware.

Mit ZF startet Schuh jetzt das nächst größere Ding. 2021 sollen 15 000 Ego Mover vom Band rollen, davon ein Drittel als autonome Fahrzeuge. Die ersten City-Roboter gehen in Aachen und Friedrichshafen in den Testbetrieb. ZF will auch die Paketzustellung weiter automatisieren: Mit aufgepeppten Lieferwagen, die mit 10 km/h allein auf Parkplatzsuche gehen, während der Zusteller die Treppe hochhastet. Ein Tagespensum von 200 Päckchen ist keine Seltenheit für Paketboten. Im Schnitt haben sie pro Zustellung knapp drei Minuten Zeit. Der Job wird durch autonome Fahrfunktionen also deutlich erleichtert. Einen Automatismus scheint es auch im größeren Maßstab zu geben: Global führende Zulieferer wie Aptiv, Bosch, Continental und ZF werden zu Konkurrenten der Fahrzeughersteller. Sie entwickeln, produzieren und vertreiben hoch integrierte Gesamtsysteme an Kunden wie Smart Cities und Mobilitätsdienstleister. Wer mit innovativen Transportlösungen am Ende Geld verdienen wird, ist noch nicht ausgemacht.

© SZ vom 25.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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