Um den Frust der Anwohner am Neckartor zu verstehen, muss man eintauchen in den Proteststurm der letzten Jahre, der über die Stadt hinwegfegte. "Oben bleiben" ist der Slogan der Gegner von Stuttgart 21 und richtet sich gegen die Pläne der Bahn, den Stuttgarter Bahnhof in der Erde zu vergraben. Oben und unten sind in Stuttgart wichtige Vokabeln, nicht nur beim Bahnhof.
Die Stuttgarter Innenstadt liegt eingepfercht zwischen Weinhängen in einem Kessel. Oben, an den Hängen, leben Menschen in Einfamilienhäusern mit vorzüglichem Blick auf das Lichtermeer der Stadt und gut motorisierten Fahrzeugen in den Garagen. Unten im Zentrum, bei Erben und Franzin, stauen sich Autos und Abgase. Deshalb hat Peter Erben an seinem Wohnzimmerfenster eine Fahne gehisst. Darauf steht: "Oben bleiben".
Er meint damit den Bahnhof, aber ein bisschen auch die da oben mit ihren Luxuslimousinen, die von den Hängen hinunter in die Stadt fahren und sein Viertel zum dreckigsten Viertel in Deutschland machen. Weil er nicht mit so einem Superlativ leben will, protestiert er weiter und widerspricht dem ADAC: "Da sind auch kurzfristige Lösungen möglich", sagt er.
Stuttgart, die gespaltene Stadt
Neben dem Neckartor, hinter grauen Schallschutzmauern, schließt sich der Schlosspark an, die grüne Lunge Stuttgarts, die vom Bahnhof bis zur Festwiese am Cannstatter Wasen reicht. Stuttgart ist eben auch von Grün durchzogen: Auto gegen Mensch, Park gegen Bahnhof - Stuttgart ist eine gespaltene Stadt. 2012 beendete Fritz Kuhn als erster grüner Bürgermeister die 40-jährige Herrschaft der CDU im Stuttgarter Rathaus. 20 Prozent weniger Autos sollen in den Stuttgarter Kessel hinab fahren - das ist Kuhns Wahlversprechen, das ist seine Zielmarke. Doch die Anwohner am Neckartor sind sich sicher: Kuhn wird sein Ziel verfehlen - Autos und Stuttgart, das gehört zusammen.
Um die Autofahrer aufzurütteln, protestierten die Anwohner weiter. Regelmäßig steht Claudia Franzin auf der Brücke mit dem Gasmaskenplakat und blickt hinab auf den rauschenden Verkehr. Ab und zu ignoriert sie das Verbot der Stadt, Werbe- mit Protestplakaten zu überhängen. Ein bisschen ziviler Ungehorsam, für einen kurzen Moment - immerhin, sagt sie, es gehe um ihre Gesundheit.
Franzin steht auf der Brücke und erzählt von ihrem Transparent, das sie über das Geländer gehängt hat. Genau dort hin, wo jetzt die Gasmaske wirbt. Ihr Slogan: "Staubbombe Rosensteintunnel - 28 000 Autos mehr!" Mit dem geplanten Tunnel soll die Bundesstraße 10 entlastet werden, die von Osten kommend nach Stuttgart-Zuffenhausen führt. Sobald der Tunnel fertig ist, da ist sich Franzin sicher, fahren noch mehr Pendler über das Neckartor ins Zentrum. Sie trägt einen weißen Handwerkermundschutz aus dem Baumarkt und blickt vom Geländer hinab auf die vorbeirauschenden Autos. Einige Autofahrer, die das Transparent schon von weitem sehen, zeigen ihr den Mittelfinger.