Feinstaub in Stuttgart:Leben an der dreckigsten Straße Deutschlands

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Feinstaub-Alarm in Stuttgart

Stickige Stadt: Viele Autos stoßen viel mehr Schadstoffe in die Luft als erlaubt. Stuttgart ist besonders belastet.

(Foto: Bernd Weissbrod/dpa)

Bei bundesweiten Feinstaubmessungen belegt die Cannstatter Straße seit Jahren den ersten Platz. Die Anwohner wehren sich gegen den Verkehr vor ihrer Haustür, doch in der Autostadt Stuttgart ist der Kampf besonders schwierig.

Von Felix Hütten

Die Gasmaske ist schon von weitem zu sehen. 80 000 Autos am Tag fahren an ihr vorbei. An dem Brückengeländer würden die Anwohner Claudia Franzin und Peter Erben gerne Protestplakate aufhängen, eine Gasmaske würde gut passen. Doch die Stadt verbietet es ihnen, Werbefläche muss bezahlt werden. Stattdessen hängt dort jetzt ein Plakat für eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg - mit einer Gasmaske darauf. Peter Erben und Claudia Franzin stehen hinter dem Plakat am Geländer. Sie schauen hinab auf die sechsspurige Cannstatter Straße und schweigen. Dann sagt Franzin doch etwas: "Es ist unerträglich." Eigentlich sagt sie es nicht. Sie schreit.

Der Himmel ist schwarz geworden, ziemlich schnell sogar, vor ein paar Minuten schien noch die Sonne. Auf dem Jackett von Peter Erben sammeln sich kleine Wassertröpfchen. "Es ist gut, dass es regnet", sagt er. "Das bindet den Staub." In einem Jahr feiern Erben und Franzin ein trauriges Jubiläum - ein Jubiläum, das sie unbedingt verhindern wollen: Zehn Jahre leben sie dann an der dreckigsten Straße Deutschlands. Es wäre eine Sensation, würde das Jubiläum ausfallen.

Feinstaub ist Autodreck

Die Scheibenwischer der Autos wischen jetzt schneller, Claudia Franzin verschränkt die Arme und zieht die Schultern hoch. Seit 25 Jahren wohnt sie am Neckartor, unweit der Cannstatter Straße. Gemeinsam mit Peter Erben und zahlreichen Unterstützern hat die 50-Jährige eine Bürgerinitiative gegen den Verkehr vor ihrer Haustür gegründet. Die Anwohner sind sich sicher: Der Verkehr vor ihrer Haustür verpestet die Luft. Feinstaub ist Autodreck.

Feinstaub entsteht bei der Verbrennung von Kraftstoff in Motoren oder in Heizungen, beim Abrieb von Kupplung, Bremsen und Reifen. Die Staubpartikel sind nur einen Mikrometer klein - also ein Millionstel Meter. Sie dringen tief in die Lunge ein und können Atembeschwerden, Kopfschmerzen und Krebs verursachen. Jahrelang kann man von den Mikropartikeln umgeben sein, ohne davon etwas zu merken. Man sieht und riecht Feinstaub nicht.

Platz eins in der Feinstaub-Tabelle

Das Neckartor in Stuttgart-Ost belegt seit 2005 bei den bundesweiten Feinstaubmessungen den ersten Platz, zuletzt im April diesen Jahres. Im vergangenen Jahr wurde der zulässige Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft 82-mal überschritten. Diese Werte misst ein beigefarbener, unscheinbarer Baucontainer. Er steht direkt unter Erben und Franzin, unter der Brücke mit der Gasmaske. FDP-Politiker im Gemeinderat wollten die Messstation schon vor Jahren abbauen. Ihr Argument: Die Bürger werden durch die hohen Werte nur verunsichert. Keine Werte, kein Ärger - auch so wird Umweltpolitik in Baden-Württemberg gedacht. Doch die Station blieb stehen - und die Messwerte weiterhin viel zu hoch.

Der Streit um den Feinstaub am Neckartor erzählt viel über die gespaltene Stadt Stuttgart. Daimler, Porsche und etliche Zulieferfirmen beschäftigen eine ganze Region. Der Wohlstand Baden-Württembergs ist zu großen Teilen der Wohlstand der Autoindustrie. Jahrzehntelang versprachen grauhaarige Politiker grenzenlose Mobilität in der Landeshauptstadt. Unter Grün-Rot wird sich das nicht ändern: "Jede baden-württembergische Landesregierung hat Benzin im Blut", kommentierte der stellvertretende Ministerpräsident Nils Schmid (SPD) die Stuttgarter Autolust. Und so durchpflügt noch heute eine sechsspurige Stadtautobahn das Zentrum der Stadt.

Auf dem Weg in die Innenstadt knickt die sechsspurige Cannstatter Straße in eine scharfe S-Kurve ab. Hinter der Kurve stehen Altbauten im Jugendstil, die im Krieg verschont geblieben sind. Auch Erben und Franzin wohnen in diesem Viertel. Regelmäßig, besonders abends, schleichen Autos durch die Straßen. "Parkplatzsuchverkehr" nennt man das hier.

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