Veterinärmedizin:Operation Tierliebe

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Wenn der Goldfisch unter Verstopfung leidet, kann eine Operation helfen - Kostenpunkt: 385 Euro. (Foto: action press)

Bestrahlung, Dialyse, sogar Organtransplantationen: Tierärzte können heute fast alle Therapien anbieten, die man aus der Humanmedizin kennt. Das bringt sie manchmal in ethische Konflikte.

Von Judith Blage

Als Queenies Beine nachgeben, sind sofort ein Dutzend Menschen zur Stelle. Sie greifen der braunen Stute in die Mähne, pressen ihren Körper an die Boxenwand - schließlich soll das narkotisierte 400-Kilo-Pferd nicht ungebremst auf den Boden krachen. Eilig winden die Tierärztin und ihre Helfer ein Lastenband um Queenies Hufe, ein 15 Meter hoher Kran hebt das Connemara-Pony kopfüber hoch und transportiert es durch die Halle auf den Behandlungstisch. Dort wird ein Hightech-Gerät in wenigen Minuten den Hauttumor des Pferdes bestrahlen.

Queenie weiß es zwar nicht, aber sie hat großes Glück: Ihr Besitzer leistet sich mehr als 4000 Euro Behandlungskosten und hat einen Transport über mehrere Hundert Kilometer auf sich genommen. Und das, obwohl Queenie schon einige erfolglose Operationen hinter sich hat, die ihren Hautkrebs oberhalb des Hufs hätten entfernen sollen. Queenie ist eines der ersten Pferde Europas, die in den Genuss einer Innovation in der Veterinärmedizin kommen, von der Ärzte noch vor zehn Jahren kaum zu träumen gewagt hätten: der Krebsbestrahlung für Großtiere. Seit Oktober 2017 bietet die Equinox Klinik im hessischen Ort Linsengericht als erste europäische Tierklinik diese Behandlung an.

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Queenies Therapie ist nur ein Beispiel von vielen für die rasante Entwicklung in der Veterinärmedizin: Herzschrittmacher, künstliche Hüftgelenke, Dialyse, eine hochmoderne Onkologie, seit Kurzem auch Stammzelltherapie - all das ist möglich. Die letzte Grenze ist bislang die Organtransplantation, die in den USA bei Tieren allerdings durchaus schon üblich ist. Im Prinzip kann ein Tier in den reichen Industrienationen eine genauso gute medizinische Behandlung erhalten wie ein menschlicher Privatpatient - sofern der Besitzer sich die leisten kann.

Die Fortschritte konfrontieren nicht nur die Gesellschaft mit der Frage, wie weit Tierliebe gehen soll oder darf. Die neuen Methoden verändern auch den Beruf der Tierärzte. Sie sind in der Praxis immer öfter gezwungen, sich mit moralischen Konflikten auseinanderzusetzen. Sie arbeiten in einem Spannungsfeld aus medizinischer Machbarkeit, Tierliebe und monetären Zwängen. "Ich habe in der Praxis mit zwei Extremen zu tun", berichtet Ann-Kristin Reiter (Name geändert), die als Tierärztin in einer süddeutschen Kleintierklinik arbeitet. "Es gibt Menschen, die wollen die 250 Euro für die Behandlung eines gebrochenen Beins nicht ausgeben und verlangen die Einschläferung eines jungen Hundes, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann gibt es diejenigen, die ihr todkrankes Tier einfach nicht sterben lassen können und mit Rechnungen um 20 000 Euro die Tierklinik verlassen." Solche Fälle seien für sie und ihre Kollegen jedes Mal eine Belastung. "Schließlich haben wir ein Berufsethos, das uns dazu verpflichtet, stets im Sinne des Tieres zu handeln. Auf der anderen Seite sind Tierbesitzer für uns Kunden, ohne die wir nicht leben können."

Mit ihrem Erleben ist Reiter nicht allein. Eine der ersten Studien, die sich mit den psychischen Herausforderungen von Tierärzten beschäftigen, haben Forscher der Universität Glasgow im Fachjournal Veterinary Record im Jahr 2012 veröffentlicht. Sie befragten sechzig britische Tierärzte nach typischen Stressanlässen in ihrem Arbeitsalltag, zum Beispiel nach der Einschläferung eines gesunden Tieres. Das Ergebnis: 57 Prozent der Tierärzte sahen sich pro Woche mit ein bis zwei ethischen Konflikten konfrontiert, 34 Prozent gerieten drei- bis fünfmal in der Woche in ein Dilemma, und zwei der Teilnehmer hatten es sogar mit mehr als zehn Gewissenskonflikten pro Woche zu tun.

Mit der Hightech-Medizin und stetig neuen Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie spitzt sich die Situation weiter zu. "Man kann sagen, die Tiermedizin steht unter einem neuen Stern", sagt Svenja Springer. Sie promoviert derzeit an der Abteilung "Ethik der Mensch-Tier-Beziehung" des Messerli-Forschungsinstituts, das zur veterinärmedizinischen Universität Wien gehört. Springer hat im Sommer dieses Jahres ein Forschungsprojekt begonnen, das den Einfluss der neuen Hightech-Medizin auf die sogenannte professionseigene Moral der Kleintierärzte ergründen soll.

"Die durchschnittliche Lebenserwartung von Hunden und Katzen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht, unter anderem aufgrund der besseren medizinischen Versorgung", berichtet sie. Das Ergebnis seien immer mehr alte Patienten, die häufiger Wohlstandserkrankungen wie Diabetes, Krebs oder sogar Demenz entwickelten. "Wegen der modernen Heilverfahren sind diese Erkrankungen auch therapierbar." Die lange Lebensdauer, verbunden mit Wohlstand und dem technologischen Fortschritt, habe zu einem neuen Niveau in der Tiermedizin geführt. "Und wie in der Humanmedizin auch, konfrontiert der rasante Fortschritt die verantwortlichen Mediziner mit ganz neuen Fragen und Unsicherheiten. Tiermediziner stehen immer mehr vor der Herausforderung, darüber zu reflektieren, ob die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel auch ausgeschöpft werden sollten."

Daneben steht der radikale Wandel in der Beziehung zwischen Mensch und Tier. "In verschiedenen Befragungen von Heimtierbesitzern, welche soziale Rolle ihr Tier für sie einnehme, antworten seit einigen Jahren über 90 Prozent der Teilnehmer, ihr Tier sei ein vollwertiges Familienmitglied", berichtet Peter Kunzmann. Der katholische Theologe und Philosoph leitet seit 2015 die Arbeitsgruppe "Ethik in der Tiermedizin" an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und ist damit der erste Professor deutschlandweit, der sich dem Thema widmet. Seit der Jungsteinzeit leben Tiere im direkten Umkreis des Menschen, sagt Kunzmann, in der westlichen Philosophietradition wahrten die Menschen aber traditionell einen deutlichen Abstand zum Tier: "Erst kam Gott, dann die Engel, dann der Mensch. Und dann erst die Tiere", erklärt der Theologe.

Genau dieses traditionelle Denkmuster breche seit etwa 40 Jahren auf. "Es gibt keinen Abstand mehr zwischen Tieren und Menschen, zumindest in Teilen unserer Gesellschaft." Der Wandel sei aber noch sehr uneinheitlich. Das zeige sich beispielhaft in den Medien. "Vor einiger Zeit titelte die Bild-Zeitung: Katze kriegt Niere für 7000 Euro. Tierlieb oder irre?", sagt Kunzmann und lacht. "Es ist sehr selten, dass sich die Bild-Zeitung nicht auf eine Sicht festlegt. Hier hat die Zeitung das vermutlich nicht getan, weil zwei völlig gegensätzliche Sichtweisen etwa gleich stark in der Gesellschaft vertreten sind." Doch die Anzahl der Menschen wachse, die für ihr Heimtier so viel empfinden wie für einen nahestehenden Verwandten.

Und für die Gesundheit eines nahestehenden Wesens sind die Leute bereit, sehr viel Geld auszugeben, auch wenn es ein Tier ist: Knapp 90 Prozent aller Heimtierbesitzer bringen ihr Tier mindestens einmal im Jahr zum Tierarzt. Alle Tierarztpraxen zusammen in Deutschland setzten 2014 knapp 2,6 Milliarden Euro um, allein der Umsatz mit Medikamenten für Tiere lag bei 500 Millionen Euro. Und der Markt wächst.

Dabei beschert vor allem die Frage nach dem Geld den Tiermedizinern die größten moralischen Dilemmata. "Anders als in der europäischen Humanmedizin müssen alle Interventionen an einem Tier aus eigener Tasche bezahlt werden", erklärt Svenja Springer. "Versicherungen gibt es zwar, die Mehrzahl der Tierbesitzer hat aber keine." In der Folge sieht sie zwei Probleme, denen sich Veterinäre in der Praxis immer häufiger stellen müssen: Ethisch am schwierigsten sei eine Situation, in der ein Arzt das Tiere zwar heilen könnte, der Besitzer aber nicht das nötige Kleingeld aufbringe. "Ein anderer Konflikt taucht auf, wenn Besitzer eine so starke emotionale Bindung haben, dass sie das Einschläfern verweigern und ihr Tier um jeden Preis am Leben halten wollen." Der behandelnde Arzt erkenne aber, dass das Fortführen der Therapie nur noch das Leiden des Tieres verlängere - ohne Aussicht auf Heilung. Die Interessen des Tierhalters und die Einschätzung des Arztes kommen also nicht überein. "Die richtige medizinische Diagnose und die technische Machbarkeit allein führen nicht unbedingt zur richtigen Therapie", fügt Springer hinzu. "Es steht immer die Frage nach der Zumutbarkeit für das kranke Tier im Raum."

Ein typisches Beispiel seien komplizierte Brüche bei Pferden. "Heute sind Brüche sehr gut heilbar. Aber das Fluchttier Pferd muss dann manchmal lange Zeit in einer Box stehen. Um den Bruch zu entlasten, stützen bestimmte Aufhängungen das Pferd, durch das lange Stehen wächst das Risiko für neue Erkrankungen." In solchen Situationen müssten Tierärzte Vorteile und Risiken genau abwägen und auch mit den Besitzern einen Dialog führen. "Das ist sehr anspruchsvoll."

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In ihrer Studienzeit habe es noch überhaupt keine Reflexion über solche Fragen gegeben, erzählt die 31-Jährige. "Doch das ändert sich gerade. Immer mehr Universitäten nehmen das Fach "Veterinärmedizinische Ethik" in ihr Curriculum auf, sogar Kommunikationstrainings für heikle Situationen mit Patientenbesitzern werden im Studium angeboten", sagt Springer. Um für die Forschung eine empirische Datengrundlage zu schaffen, entwickelt sie derzeit einen Fragebogen, mit dem sie eine repräsentative Umfrage unter österreichischen Tiermedizinern zu moralischen Dilemmata starten will. Ihre Vision: "Schon jetzt hat sich in der Pferdeklinik Wien eine Ethik-Arbeitsgruppe etabliert, die aus Fachärzten, Pflegern, der Klinikleitung und dem Philosophen Herwig Grimm besteht." In schwierigen Fällen setze sich die Gruppe zusammen und berate gemeinsam mit dem behandelnden Arzt, was zu tun sei. "Künftig könnte es in vielen Kliniken solche interdisziplinären Arbeitsgruppen geben, die den einzelnen Tierärzten in extrem belastenden Situationen zur Seite stehen."

Auch Janine Brunner hat regelmäßig mit komplizierten Fällen zu tun. Die 31-Jährige ist leitende Tierärztin an der Equinox Klinik in Linsengericht. Bislang konnten Ärzte bei Großtieren die Tumore lediglich herausschneiden, weil es keine Bestrahlungsliegen gab, die dem Gewicht eines Pferdes standhielten. Der Besitzer der Klinik, Tim Kowalewski, hat jedoch einen Spezial-Bestrahlungstisch entwickeln und patentieren lassen. Die Eröffnung der Klinik liegt erst wenige Wochen zurück, doch schon jetzt ist sie ausgebucht. Patienten aus Luxemburg und Spanien stehen in den großen Boxen. Auch Zootiere wie Tiger oder Antilopen könnten künftig hier bestrahlt werden, doch vor allem werden es wohl Pferde sein. "Pferde werden vergleichsweise alt. Viele Besitzer sind mit ihrem Pferd aufgewachsen, deshalb ist die Bindung stark", berichtet Brunner.

Sie hört auch viel Kritik: "Viele Menschen glauben, eine Krebsbestrahlung für Pferde ist Tierquälerei. Sie verwechseln die Bestrahlung mit einer Chemotherapie und glauben, das Pferd verliert alle Haare." Dabei sei die Narkose für die Bestrahlung viel leichter als die bei einer Operation. "Und Bestrahlung ist eine schmerzfreie Therapie." Eines der ersten Pferde, die sie behandelt habe, habe vor lauter Schmerzen aufgrund eines Tumors nicht mehr fressen können. "150 Kilo hat der Kaltblüter abgenommen. Nach nur einer einzigen Bestrahlung hat er gefressen wie ein Scheunendrescher." Für die Therapie müssen die Pferde etwa eine Woche in der Klinik bleiben. Die Ärzte setzen sie einmal täglich unter Narkose und das Hightech-Bestrahlungsgerät behandelt die Tumore nach einem genau berechneten Plan. Das moderne Gerät mache eine Bestrahlung für Pferde erst möglich. "Es ist so präzise, dass wenige Anwendungen ausreichen. Mit alten Geräten müsste ein Pferd 30 Mal oder mehr bestrahlt werden. Das kann man keinem Tier zumuten", sagt sie.

Gerade bei der Behandlung von Queenie sieht sie deshalb keine moralischen Fallstricke. "Der Stute fehlt nichts, sie ist jung und munter. Ihr einziges Problem ist ein kleiner Tumor über dem Huf. Weshalb sollte man das Tier zum Schlachter bringen? Weil es etwa unmoralisch ist, so viel Geld für ein Tier auszugeben? Diese Argumentation verstehe ich nicht", schnauft Brunner verärgert. "Dann sollen die Leute in Zukunft auch moralisch verurteilt werden, weil sie für viel Geld in die Karibik fliegen oder sich ein teures Auto kaufen. Das Geld hätten sie theoretisch ja auch der Caritas spenden können."

Queenie sind solche Diskussionen egal. Die Stute steht zehn Minuten nach der Bestrahlung wieder halbwegs wach in ihrer Box und mümmelt benommen an einem Halm. Sie darf später nach Hause, heute war die fünfte und letzte Behandlung. Ihre Prognose laut Brunner: "wahrscheinlich geheilt".

© SZ vom 03.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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