Tiere in der Stadt:Wilde Nachbarn

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Im Dickicht der Städte verändern zugewanderte Tiere ihr Verhalten. Ist es wirklich gut, wenn Waschbären auf Müllwerker umschulen und Tauben U-Bahn fahren?

Claus-Peter Lieckfeld

Kurz nachdem er seine Stadtwohnung in Concord/ Massachusetts verlassen hatte und in den Wald gezogen war, legte er neben seiner selbst gezimmerten Hütte einen Kleinstgarten an.

Verhaltensforschung
:Tiere wandern in die Stadt

Immer mehr wilde Tiere zieht es in urbane Lebensräume. Ihre natürliche Lebensweise bleibt dabei häufig auf der Strecke.

Wenig später notierte der Reformschullehrer Henry David Thoreau (1817-1862): "Meine Freunde sind Würmer, kalte Tage, vor allem aber die Waldmurmeltiere. Die Letzteren haben schon ein Viertel Morgen abgenagt. Was für ein Recht hatte ich auch, Johanniskraut und das Übrige zu vertreiben und ihren alten Kräutergarten zu roden?"

Mittlerweile gilt Thoreaus Buch "Walden. Oder Leben in den Wäldern", sein Protokoll über zwei Jahre Einsiedelei, als Urschrift der Aussteiger-Monografien, als literarisches Manifest der Wildnisethik und Inspirationsquelle der amerikanischen Nationalparkbewegung - und das, obwohl seine Hütte an einem stadtnahen See lag und der umgebende Wald genau genommen Kulturlandschaft war, keinesfalls Wildnis.

Das Werk ist dennoch eingerückt in den Kanon der Weltliteratur, nicht zuletzt deshalb weil Thoreau die Sehnsucht der Menschen nach ursprünglicher Natur beispiellos eindrücklich in Worte goss. Von diesem Harvard-Absolventen, Gelegenheits-Bleistifthersteller, Flötenspieler, Tagträumer, Naturschilderer, Tagebuchschreiber stammt auch die Prophetie, die Menschen in den Städten müssten inwendig verwildern, wenn sie keine Wildnis vor den Stadttoren mehr hätten.

Flucht in die Stadt

Nun können wir, gut 150 Jahre nach Thoreau, wohl nicht entscheiden, ob die inwendige Verwilderung in den Städten damit zu tun hat, dass Wildnis stadtfern wurde, dass unsere Welt in Mittel- und Westeuropa nur noch kleine Wildnisrückzugsgebiete kennt. Ängstlich gehütet, verzweifelt verteidigt, denn, so Thoreaus Meisterschüler John Muir: "Nothing dollarable is safe."

Aber etwas anderes ist sicher: Die Protagonisten der Wildnis, die Wildtiere, ziehen in die Städte. Nicht alle. Und schon gar nicht alle freiwillig. Sie fliehen vor der Unwirtlichkeit des ländlichen Raums: glatt gebügelt, begradigt, versiegelt, entwässert, entnischt, teils von der Agrarindustrie vergiftet. Städte dagegen bieten, von Fall zu Fall, Schutz; im Stadtpark darf kein Jäger auf Wildsau, Reh, Fuchs oder Kaninchen schießen.

Städte bieten Wärme und Windschatten. Es gibt jahreszeitunabhängig Nahrungsquellen - nicht nur die vielzitierten weggeworfenen Schulbrote. Das Häusermeer schafft für etliche Neu-Zuzügler größere Sicherheit vor traditionellen Feinden: Das Eichhörnchen zum Beispiel kann sich, so scheint es, besser auf Urbanität einstellen als seine Gegner, die Greifvögel und Baummarder.

Die wenigen Grade Celsius, um die der Winter in der Stadt wärmer ist als im Umland, reichen einigen Schmetterlingsarten, um erfolgreicher zu überwintern. Und in Stadtgärten werden weniger Pflanzen-, Pilz- und Insektengifte versprüht als auf ländlichen Agrarflächen.

Warum Siegertypen in der Stadt im Vorteil sind, lesen Sie auf Seite zwei.

Ein Thoreau unserer Tage könnte also mit Blick auf seinen Balkonblumenkasten jubilieren: "Meine Freunde sind die nachtschwärmenden Flugartisten, die Weidenspanner, aber auch die Eichelhäher. Welches Recht hatte ich auch, die Garageneinfahrt zu versiegeln; Recht dagegen hatten die Häher, beim Nüsseverstecken meine Geranien umzupflügen."

(Foto: N/A)

Wildtiere auf Sichtweite sind etwas Schönes, sind Lebensqualität. Darf man da Spaßverderber sein? Etwa indem man darauf hinweist, dass die vielen Füchse in unseren Städten nicht zuletzt dem urbanen Überangebot an Ratten und Mäusen folgen? Dass die vielen Schmetterlinge - vier Fünftel aller Arten sind Nachtschmetterlinge - von dem für sie tödlichen Lichtermeer angelockt werden?

Tödliches Lichtermeer

Dass die für tierische Verhältnisse hochintelligenten Wildschweine nur deshalb gern in unseren Stadtparks wühlen, weil sie hier nicht unter Feuer genommen werden - und dass sie deshalb von einer Land- zu einer Stadtplage werden?

Klima, Lebensraum, Konkurrenz und die Zeit haben über die Millenien hinweg neue Arten begünstigt und alte ausradiert. Jetzt wird der Mensch zu einem wesentlichen Auslesefaktor und Evolutionskriterium: Wer uns und unseren globalen Veränderungstaten widersteht - oder sogar davon begünstigt wird - siegt; wem das nicht gegeben ist, der unterliegt. Letzteres gilt für die meisten.

Deshalb fällt es mir so schwer mitzujubeln über die zahlreichen Neu-Städter. Mehr Vögel in der Stadt: Ja, das freut einen schon - irgendwie. Aber es sind überwiegend die "Klarkommer", die immer schon Erfolgreichen, nicht die hochbedrohten Spezialisten, die Verletzlichen. Die Stadt bevorteilt in der Regel Siegertypen. Nichts gegen Sieger.

Aber ich frage mich, ob ein Eichhörnchen noch ein Wildtier ist, wenn es - zweifellos bezaubernd anzusehen! - Nüsse aus der Hand frisst. Und ob ein Waschbär, der zum Müllwerker umgeschult hat, eine faunistische Bereicherung ist? Ob die Füchse der Vorstädte (nein, wir reden jetzt nicht von Tollwut!) wirklich noch Wildtiere, Tiere mit Würde sind?

Falsche Legitimation

Populäre Augenschein-Missverständnisse liegen zum Greifen nahe. Weil es die intelligenten Elstern gelernt haben, dass sie in Menschennähe nicht gejagt werden, bevorzugen sie Siedlungen. Dort kann man sie dann gehäuft beobachten; und so legitimiert sich - scheinlogisch - die Drängelei der Jagdlobby, diese Singvogel-Nesträuber wieder abschießen zu dürfen.

Was den Zuzug der Elstern in schussfreie Gebiete weiter verstärkt. Der Schutzraum Stadt ist ein Notaufnahmelager. Es füllt sich, weil wir die Landschaft rund um die Städte zerschlagen, peu à peu, mit jedem versiegelten Quadratmeter, mit jeder gefällten Hecke.

Wer sich da noch rechtzeitig von Sämereien oder Insekten auf McDonald's-Brötchenreste umstellen kann, gewinnt. Wer menschliche Nähe ertragen kann, siegt. Wer weiß, wie man Abwärmeschächte nutzt, hat einen Auslesevorteil. Ich gönne allen Städtern das Mehr an Wildtieren - als Augenschmaus.

Den Kindergartenkindern gönne ich die Meisen. Vielleicht sind sie naturpädagogische Hilfslehrkräfte? Und der Vorgartengärtner soll seine Freude an der Bachstelze haben, die sein selbst gebasteltes Feuchtgebiet besucht. Toll. Wunderbar.

Solange nicht der falsche "Sichtbeweis" zum Scheinargument wird: "Was wollt ihr denn, ihr Rote-Liste-Panikmacher! Man sieht überall Wildtiere, sogar in der Stadt!" Das "sogar" ist fatal. Bevölkerte Inseln sagen nichts über das Meer. Und wenn doch, dann sagen sie nicht die Wahrheit.

Claus-Peter Lieckfeld ist Mitbegründer des Magazins "natur", Journalist und Buchautor ("Tatort Wald").

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