Philosoph Michael Lynch:"Falsche Informationen nehmen schneller zu als wahre"

Wer ist schuld am Ukrainekrieg? Oder an der Krise in Gaza? In vielen Konflikten scheint es verschiedene Wahrheiten zu geben. Der Philosoph und Spezialist für Wahrheitstheorien Michael Lynch erklärt, wie soziale Netzwerke Fakten verzerren und was die NSA mit Platon verbindet.

Von Christoph Behrens

Was ist Wahrheit? Über diese Frage streiten Philosophen seit Jahrtausenden. Und in Konflikten wie in der Ukraine oder Gaza - wenn jede Seite für sich die Wahrheit in Anspruch nimmt - wird sie plötzlich wieder aktuell. Der Philosoph Michael Lynch beschäftigt sich seit etwa 20 Jahren mit Wahrheitstheorien. Er lehrt an der University of Connecticut in den USA.

SZ.de: Herr Lynch, jeder Mensch, selbst der größte Lügner, wird wohl eine ungefähre Vorstellung davon haben, was Wahrheit ist. Warum beschäftigen sich Philosophen wie Sie dann seit Tausenden Jahren damit?

Michael Lynch: Wir hantieren mit der Wahrheit meist ganz selbstverständlich, so wie mit vielen philosophischen Begriffen - wie Gerechtigkeit oder Schönheit. Zeugen sollen die Wahrheit sagen, und wir gehen davon aus, dass sie wissen, was damit gemeint ist. Unseren Kindern erzählen wir, dass sie nicht lügen dürfen. Den Philosophen braucht es erst, um detaillierter zu erklären, was solche Konzepte bedeuten. Wahrheit macht besonders stutzig. Fragen Sie mal jemanden auf der Straße, was Wahrheit ist. Die Leute wissen nicht recht, was sie darauf antworten sollen.

Genauso vielfältig dürfte eine Befragung von Philosophen ausfallen. Der französische Philosoph Michel Foucault war zum Beispiel der Meinung, es gebe gar keine universelle Wahrheit.

Die Frage ist kulturell sehr aufgeladen. In den letzten 30 bis 40 Jahren war vor allem bei französischen Philosophen die Idee populär, dass Wahrheit etwas ist, das konstruiert wird. Das kann befreiend sein, aber auch verstörende Konsequenzen haben.

Welche denn?

Angenommen, Wahrheit wird konstruiert. Dann frage ich: Konstruiert von wem? Die gängige Antwort ist: von denen, die Macht haben. Die Idee, dass die Wahrheit von den Mächtigen "gemacht" wird, erinnert mich an Karl Rove, einen der engsten Berater von George W. Bush. Rove sagte einmal zu einem Reporter der New York Times über die Politik der US-Regierung: "Sie haben das nicht richtig verstanden. Wir erschaffen jetzt unsere eigene Realität."

Das war kurz vor dem Irak-Krieg 2003 ...

... der mit einer Lüge begann, die von der Regierung als wahr dargestellt wurde. (Die Bush-Regierung hatte behauptet, Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak zu besitzen, Anm. der Red.). Was Rove mit dem Satz meinte, ist: Wahrheit wird konstruiert, und wir sind diejenigen, die sie konstruieren. Das hat schlimme Folgen. Ein Ideal der US-Bürgerrechtsbewegung lautet "Speaking Truth to Power" (den Mächtigen die Wahrheit sagen), also ihre Fehler aufzudecken und sie zu kritisieren. Aber wenn die Mächtigen die Wahrheit selbermachen, ist Kritik nicht mehr möglich. Denn die Politiker haben per Definition Recht. Warum sollte man sich dann also noch mit ihnen anlegen? Ein gefährlicher Gedanke, dennoch war er unter Philosophen sehr populär.

Auch unter Machthabern wie Wladimir Putin scheint die Idee gerade Konjunktur zu haben. Zwei Drittel der Russen sind dank der Staatspropaganda fest davon überzeugt, der Krieg in der Ukraine sei durch "westliche Einflussnahme" ausgelöst worden. In Gaza und Israel scheint es auch stets zwei Wahrheiten zu geben. War das schon immer so in Konflikten oder beobachten Sie da etwas Neues?

Die Wahrheit ist in jedem Krieg das erste Opfer. Aber der Unterschied ist, dass die sozialen Medien die Propaganda in einem Ausmaß beflügelt haben, das wir nie für möglich gehalten haben. Die sozialen Netzwerke sind großartige Informationskanäle. Aber wir lernen jetzt, dass sie auch fantastische Wege eröffnen, Informationen zu verzerren. Und das ist für die meisten Menschen nur schwer zu durchschauen. Neu ist diese unfassbare Menge an Daten und Informationen.

"Die Realität bahnt sich schon ihren Weg"

Das erscheint doch widersprüchlich: Wenn die Daten so rasant wachsen, dann müssten Wissen und Wahrheit sich doch ebenfalls vergrößern.

Mag sein, dass die Menge an wahren Informationen zunimmt. Ich glaube aber: Falsche Informationen nehmen schneller zu als wahre. Und was überhaupt nicht besser wird, ist unsere Fähigkeit, Wahrheit und Lüge zu trennen.

Warum nicht?

Das braucht wohl Zeit. Als im 16. und 17. Jahrhundert die ersten gedruckten Bücher erschienen, waren viele Philosophen sehr besorgt. Sie glaubten, es gebe nun so viele Bücher, dass die Menschen die guten von den schlechten nicht mehr trennen könnten. Heute ist es ähnlich: Neue Medien sind viel visueller als früher. Und man hat noch keine Techniken entwickelt, um Menschen beim Sortieren der Informationen zu unterstützen. Aber das ändert sich gerade: Reporter haben zum Beispiel ein Handbuch entwickelt, mit dem Menschen Verzerrungen in sozialen Netzwerken erkennen können. Darin wird zum Beispiel die umgekehrte Bildersuche als Möglichkeit genannt: Damit konnte zum Beispiel das Foto eines Panzers, der angeblich in der Ukraine eingesetzt wurde, in Wirklichkeit dem Tschetschenien-Konflikt zugeordnet werden.

Ist eine Gesellschaft, die Wahrheit anstrebt, für Sie automatisch eine gute Gesellschaft?

So einer Gesellschaft geht es sicher besser als so einer, die das nicht tut, aber das ist noch nicht ausreichend für eine gerechte Gesellschaft. Ein Staat kann korrumpiert und moralisch verkommen sein, obwohl er an Wahrheit interessiert ist. Philosophen müssen darüber viel mehr nachdenken: Warum ist Wahrheit so wichtig für unser Zusammenleben?

Für Politiker ist die Lüge manchmal ein willkommenes Instrument. "Wenn es ernst wird, musst du lügen", hat Jean-Claude Juncker, der neue Präsident der EU-Kommission, einmal gesagt. Er ließ Presseberichte über ein Krisentreffen mit der griechischen Regierung dementieren, obwohl die Limousinen schon zum Tagungsort vorgefahren waren. Eine Studie in Science kam sogar zu dem Ergebnis, Notlügen hielten die Gesellschaft zusammen.

Wenn die Partnerin fragt "Wie sieht dieses T-Shirt aus?" ist wohl jeder gute Ehemann oder Freund mal geneigt, nicht ganz ehrlich zu sein. Solche kleinen Unwahrheiten verbessern tatsächlich das Zusammenleben. Auf staatlicher Ebene liegt die Sache ganz anders. Wenn man die Idee zu weit treibt, dass Lügen okay sei und dass die Regierung das sogar tun müsse, landet man bei einer alten These von Platon: Die Herrschenden dürfen ihre Bürger anlügen, weil sie die "echte" Wahrheit kennen, diese aber verbergen müssen. Ein zutiefst antidemokratischer Gedanke. Damit können Regierungen es rechtfertigen, systematisch Informationen vor der Bevölkerung zu verstecken.

Sehen Sie sich an, was in den USA passiert: Die NSA sammelt massenhaft Informationen über Amerikaner und Deutsche. Bis Edward Snowden das enthüllte, hat der Geheimdienst das stets abgestritten, weil er glaubte, die Wahrheit verbergen zu müssen - exakt die Argumentation Platons.

Die DDR verfolgte dieselbe Strategie der Täuschung - und brach am Ende zusammen.

Fakten zu verwischen, mag eine Zeit lang gut funktionieren. Aber die Realität bahnt sich schon ihren Weg, da gibt es historisch genug Beispiele. Die NSA und andere Organisationen, die an der Wahrheit schrauben, täten gut daran, diese Lektion zu lernen.

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels sprach Herr Lynch von einem "Programm" von Amnesty International, mit dem sich Verzerrungen aufspüren ließen. Gemeint war jedoch kein interaktives Tool, sondern ein Handbuch (dieses finden Sie hier), das von Reportern entwickelt wurde und auf das Amnesty International aufmerksam gemacht hatte.

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