Nobelpreis für Medizin:An den Nöten der Patienten vorbei

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Die Erkenntnisse über die Zellen zur Orientierung von Säugetieren sind faszinierend. Patienten nützen sie allerdings bislang nichts. (Foto: AFP)

Drei ehrenwerte Mediziner bekommen den Nobelpreis. Doch wem helfen die Ergebnisse ihrer Forschung? Der praktische Nutzen ist allenfalls bescheiden.

Kommentar von Werner Bartens

Glückwunsch! Dem freundlichen norwegischen Ehepaar Moser gönnt man den Medizin-Nobelpreis unbedingt. Mit John O'Keefe zusammen haben sie erforscht, welche Zellen im Gehirn für die Orientierung zuständig sind. Die Eheleute erhalten die höchste Auszeichnung ihres Fachgebietes; nicht erst - wie sonst üblich - im Greisenstadium, sondern in dem für Nobelpreisverhältnisse jugendlichen Alter von Anfang 50. Sie können also damit noch etwas anfangen.

Es ist wichtig, dass Forscher unser inneres Navigationssystem als reine Nervensache identifiziert haben und dafür ausgezeichnet werden. Aber muss es der Nobelpreis sein? Nach dem Willen Alfred Nobels sollte der an Forscher verliehen werden, deren Arbeiten "größten Nutzen für die Menschheit erbracht" haben. Dieser Passus ist dehnbar, aber selbst mit viel Toleranz lässt er sich auf die Mehrzahl der Preisträger der letzten Jahrzehnte nicht anwenden. Was haben beispielsweise die vielen alten, verwirrten Menschen, die weder wissen, wo sie sind noch wer sie sind, von der nun ausgezeichneten neurologischen Grundlagenforschung?

Fragen von praktischer Relevanz werden kaum untersucht

Das Ritual der Medizinnobelpreis-Bekanntgabe ist ein Spiegelbild der Forschung in den meisten Ländern. Ausgezeichnet werden Puzzle-Arbeiten auf Molekül- oder Zellebene. Zugegeben, die Auszeichnung wird auf dem Gebiet "Physiologie oder Medizin" vergeben, das schließt Biologie, Biochemie und Biophysik und damit viel kleinteilige Forschung mit ein, die nichts mit den Nöten der Patienten zu tun hat. Aber die Vergabepraxis der Nobelpreise zeigt leider auch, wie einseitig Schwerpunkte in der biomedizinischen Forschung gesetzt werden, wofür Geld bereitgestellt wird - und wofür nicht. Die Dekade des Genoms und die Dekade des Gehirns wurden ausgerufen. Was ist dabei noch mal herausgekommen? Viele Erkenntnisse im Detail, wenig Nutzen für Kranke.

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:Forscht die Medizin am Patienten vorbei?

Nach dem Willen Alfred Nobels sollte der Nobelpreis an Forscher verliehen werden, deren Arbeiten "größten Nutzen für die Menschheit erbracht" haben. Selbst mit viel Toleranz lässt sich das für die Mehrzahl der Preisträger der letzten Jahrzehnte nicht sagen.

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Grundlagenforschung hilft, Vorgänge im gesunden wie im kranken Körper besser zu verstehen. Vielleicht entsteht daraus auch ein neues Medikament oder ein diagnostisches Verfahren. Zwangsläufig ist das nicht, denn nur ein Bruchteil der im Labor getesteten Substanzen kommt beim Patienten an.

Mice tell lies - in diesem Bonmot zeigt sich das Elend vieler Experimente im Labor: Neue Stoffe, die in der Zellkultur oder im Versuch mit der Maus beeindruckende Ergebnisse erbracht haben, bleiben oft wirkungslos, wenn sie am Menschen getestet werden. Eine Faustregel besagt, dass 90 Prozent aller tierexperimentell getesteten Mittel nie am Patienten erprobt werden, weil sie vorher durchfallen. Und dass wiederum von jenen Medikamenten, die in klinischen Studien dann untersucht werden, 90 Prozent nie die Hürden der Zulassung überspringen.

Seit Jahren haben Pharmafirmen keine neuen Medikamentengruppen auf den Markt gebracht. Selbst erfahrenen Ärzten wird es schwerfallen, zehn neue Medikamente zu nennen, die in den vergangenen zehn Jahren entwickelt worden sind und echte Vorteile für Patienten gebracht haben.

Trotzdem wird in diesem Bereich ungebremst investiert. Fragen von praktischer Relevanz hingegen werden kaum untersucht. Wer erforscht beispielsweise, wie alte Menschen mit dem Tablettencocktail von durchschnittlich zwölf Medikamenten täglich zurechtkommen? Wer untersucht, wie viele Mittel gegen Bluthochdruck überflüssig sind?

Und wer analysiert, wie zu verhindern wäre, dass 30 000 Zuckerkranken in Deutschland jedes Jahr der Fuß amputiert werden muss? Eine Auswertung von 1000 deutschen Forschungsarbeiten der vergangenen zwölf Jahre zum Thema Diabetes hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte davon Laborstudien waren, ein weiteres Drittel für Patienten irrelevant und nur ein Dutzend tatsächlich die Versorgung der Kranken und Verbesserungen von Diagnose oder Therapie zum Thema hatte.

Wissenschaft und Industrie haben sich eine Akzeptanz-Rhetorik zurechtgelegt, um ihr molekular-zelluläres Weltbild zu festigen. Sie berufen sich darauf, dass Erkenntnis im Kleinen auch irgendwann zu Erfolgen im Großen, sprich in Behandlung und Versorgung führt. Zwangsläufig ist das nicht, nur Wunschdenken. Es kann sein, dass bei den Bastelarbeiten im Labor nie etwas herauskommt, auch wenn jeder Fachkongress Vorträge im Programm hat, in denen visionär die Übertragung vom Labor ans Krankenbett erläutert wird.

Forschung in der Medizin ist wichtig. Aber sie sollte nicht nur dem reinen Erkenntnisgewinn dienen, sondern den Patienten. Wer Fördermittel verteilt, Preise vergibt und Forschungsschwerpunkte setzt, muss die Hinwendung zum Kernbereich der Medizin beachten.

© SZ vom 07.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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