Neurologie in Tübingen:Eins mit Stern

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Der Wissenschaftsrat lobt das Tübinger Zentrum für Neurologie. Die Qualität von Forschung und Klinik seien "einmalig in Deutschland".

Von Patrick Illinger

Ein unscheinbares Bürohaus im Kölner Süden, das mit beamtischer Regelmäßigkeit sperrig formulierte Berichte publiziert. Den deutschen Wissenschaftsrat könnte man leicht unterschätzen. Doch wäre das ein Fehler. Die bescheiden auftretende Organisation entscheidet im deutschen Wissenschaftssystem über Leben und Tod - zumindest was die Gründung oder den Fortbestand wissenschaftlicher Einrichtungen betrifft. Neue Hochschulen akkreditiert der Wissenschaftsrat ebenso, wie er bestehende Forschungsinstitute unter die Lupe nimmt. Egal mit welchem Rang und Namen, Wissenschaftler geraten unter Anspannung, wenn ein Expertengremium des WR, wie der Rat im Jargon auch heißt, zur Evaluation anrückt.

Im Sommer dieses Jahres bekamen die Mediziner, Neurologen und Biochemiker des Tübinger Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung Besuch einer Expertengruppe des Wissenschaftsrats. Der Bericht des Prüfgremiums sowie die daraus abgeleiteten Empfehlungen sind nun publiziert. Und all die nüchterne Wortwahl einmal beiseitegeschoben: Hier wurde eine Eins mit Stern vergeben. Diesem Rat zufolge ist in Tübingen eine medizinische Vorzeigeanstalt entstanden. Das in der Fachwelt seit Jahren diskutierte Thema "Bench to Bed" scheint dort nahezu optimal gelöst zu sein, also die Frage, wie man Erkenntnisse von der Laborbank möglichst schnell und effektiv an Patientenbetten anwendet. Und natürlich geht es auch um die Gegenrichtung, klinische Erkenntnisse sollten die mitunter arg theoretisierenden Labormenschen auf neue Fährten bringen.

Verschiedene Fachrichtungen arbeiten zusammen, die Kranken werden optimal versorgt

Dies ist dem Bericht des Wissenschaftsrats zufolge im Tübinger Zentrum für Neurologie, das von der Uniklinik Tübingen und dem stiftungsfinanzierten Hertie-Institut für klinische Hirnforschung betrieben wird, auf vorbildliche Weise gelungen. Positiv wird insbesondere die Gleichberechtigung und Vernetzung der fünf Abteilungen des Instituts gewertet. Deren Leiter bilden mit weiteren Wissenschaftlern den Vorstand. Sie tragen gemeinsam Budgetverantwortung, und in allen Bereichen werden parallel zur Grundlagenforschung auch Patienten versorgt, egal ob es um Parkinson, Alzheimer, Epilepsie oder Zellbiologie geht. Der operative Vorstand, inklusive der Geschäftsführer, ist an die Vorgaben der Wissenschaftler und Mediziner gebunden. Zudem kann sich das begleitende Kuratorium auf fachliche Fragen konzentrieren, während ein Aufsichtsrat die Finanzen im Blick behält - auch im Sinne der geldgebenden Hertie-Stiftung.

Die Organisationsstruktur des Zentrums sei in Deutschland einmalig, betont der Rat. Die Zusammenführung verschiedener als "Departments" organisierter Fachrichtungen sowie die Einbindung klassischer Patientenversorgung sei beispielgebend. Kurz gesagt: Mediziner in Deutschland, schaut doch mal in Tübingen vorbei.

Dem Wissenschaftsrat zufolge sprechen auch numerische Kenngrößen wie hohe Publikationszahlen sowie eine vergleichsweise kurze Patientenverweildauer für die Effizienz der Arbeit in Tübingen. Hinzu kommen Lehrangebote wie ein Masterstudiengang in Neurowissenschaften und Promotionsprogramme. Für die Zukunft empfiehlt das Kölner Gremium dringend mehr Frauenförderung sowie die Bildung unabhängiger Nachwuchsgruppen, die neue, von den bestehenden Abteilungen noch nicht abgedeckte Themen erarbeiten sollen.

© SZ vom 19.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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