Mord und Totschlag:"Niemand ist vor Gewalt gefeit"

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Es könnte jederzeit wieder passieren, dass Familienväter und Durchschnittsbürger Kinder, Frauen und Männer ermorden. Denn in jedem Menschen lässt sich die Bereitschaft zu töten wecken. Der Psychologe Harald Welzer über das Gewaltpotential der Menschen.

Sebastian Herrmann

Was muss passieren, damit ein Mensch tötet? Wie konnte es geschehen, dass Familienväter und Durchschnittsbürger aus Deutschland während des Zweiten Weltkrieges Tausende Kinder, Frauen und Männer ermordeten? Harald Welzer, Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und Professor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke, befasst sich mit diesen Fragen. Seine Ergebnisse sind beunruhigend: Es könnte jederzeit wieder passieren, denn in jedem Menschen ließe sich die Bereitschaft zu töten wecken.

Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und Professor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke. (Foto: oh)

SZ: Menschen sind trotz allen zivilisatorischen Fortschritts zu unfassbaren Grausamkeiten fähig. Ist die Mauer, die moderne Gesellschaften um das Gewaltpotential des Menschen errichtet haben, zu schwach?

Welzer: Nein, diese Mauern sind sogar sehr stark - solange sie bestehen. Es ist jedoch leicht, Situationen zu schaffen, in denen diese Begrenzungen nicht mehr gelten, dann ist alles möglich. Ich vertrete nicht die These, dass Gewalt und Tötungsbereitschaft eine anthropologische Konstante sind. Aber wir haben Gewalt immer als Option sozialen Handelns, das zieht sich durch die Geschichte. Wie und wie stark Gewalt ausgeübt wurde, ist historisch sehr variabel.

SZ: Wie müssen diese Situationen gestaltet sein, damit Menschen gewalttätig handeln?

Welzer: In den Abhörprotokollen gefangener Wehrmachtssoldaten zeigt sich deutlich, dass Menschen dann Gewalt ausüben, wenn sie sich in einem Kontext befinden, in dem das naheliegt. Etwa, weil es die Kameraden tun, weil es befohlen wurde oder weil sie das Gefühl haben, ihren Job erledigen zu müssen. Während des Völkermordes in Ruanda haben die Täter zum Beispiel das Töten oft als Arbeit bezeichnet, die zum Wohle der Gesellschaft verrichtet werden müsse.

SZ: Selbst wenn es Arbeit genannt wird, es bleibt ein Verbrechen.

Welzer: Menschen sind fähig, ihre Taten in solche spezifischen Referenzrahmen einzuordnen und ihr Handeln dadurch als von ihrer moralischen Person losgelöst zu betrachten. Dadurch war es möglich, dass Angehörige deutscher Einsatzgruppen im Zweiten Weltkrieg buchstäblich im Blut der Männer, Frauen und Kinder standen, die sie erschossen und sich gleichzeitig als Opfer einer Aufgabe wahrnahmen, die von den historischen Umständen diktiert wurde.

SZ: Aber Täter, die in einer Demokratie sozialisiert wurden, geraten in diesen Situationen in Konflikt mit ihren Wertvorstellungen, die auch Teil des Referenzrahmens sind.

Welzer: Wir überschätzen die Handlungswirksamkeit von Werten, Normen und Moral enorm. Wie wir uns im Alltag verhalten, ist ja nicht von abstrakten Erwägungen geleitet. Es geht immer darum, was muss man als Nächstes tun und welche Mittel müssen ergriffen werden, um ein Ziel zu erreichen. Stellen Sie sich vor, Sie haben Streit mit einem Kollegen. Sie werden versuchen, in der Situation eine Lösung zu finden.

Dass Sie dabei vielleicht Fehler gemacht und gegen Ihre eigenen Werte gehandelt haben, das fällt Ihnen erst auf, wenn die Situation vorüber ist. Das ist der erste Moment, an dem Moral, Reflexion und Werte ins Spiel kommen. Wenn der Befund lautet, dass man gegen Normen verstoßen hat, dann muss man irgendetwas justieren. Entweder die Erklärung dafür, warum man sich da widersprüchlich verhalten hat oder die Norm, die jetzt ausnahmsweise nicht wirksam gewesen ist.

SZ: Wie schlagen Sie jetzt die Brücke vom Streit unter Kollegen zum Mord?

Welzer: Dieser Mechanismus gilt für alle Handlungen; sogar bei Gegenstandsbereichen, die wir für vollkommen andersartig halten wie eben Mord. Selbst wenn wir gewaltabstinent sind, heißt das ja nicht, dass Gewalt verschwunden ist. Und wenn situative Faktoren dafür sprechen, dann wird das Gewaltpotential geweckt. Davor ist keiner gefeit.

SZ: Wirklich niemand?

Welzer: Niemand, bis auf wenige Ausnahmen. Wobei wir bei denen nicht wissen, was die dazu befähigt, sich anders zu verhalten. Leider muss ich sagen, dass wir in den Abhörprotokollen von Wehrmachtssoldaten den frappierenden Befund gefunden haben, dass die Leute von jetzt auf gleich in der Lage sind, die brutalsten Taten zu begehen. Zuvor dachte ich, dass es einer schrittweise Eingewöhnung bedarf, damit normale, psychisch unauffällige Menschen töten. Aber nicht mal das ist offenbar nötig.

© SZ vom 02.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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