Medizin-Nobelpreis 2011:Zwei Preisträger und ein Todesfall

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Der Immunologe Ralph Steinman war krank. Schwer krank. Offenbar wollte die Nobeljury ihn noch rechtzeitig vor dem Tod auszeichnen - und verlieh ihm zusammen mit zwei Kollegen den Medizin-Nobelpreis. Doch Steinman starb schon vor der Bekanntgabe, und nun hat das Komitee ein Problem: Denn die Regularien untersagen eine posthume Auszeichnung.

Christina Berndt

Eigentlich wollte die Nobelversammlung dem Tod zuvorkommen. Das ist die Meinung vieler Wissenschaftler, wenn sie die drei Namen betrachten, die am Montag als diesjährige Träger des "Nobelpreises für Physiologie oder Medizin" verkündet wurden. Der Luxemburger Jules Hoffmann, der US-Amerikaner Bruce Beutler und der Kanadier Ralph Steinman sollten die höchsten Weihen der biomedizinischen Forschung erhalten.

Ralph Steinman entdeckte die dendritische Zellen und deren Funktion im Immunsystem. Dafür sollte er mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt werden - doch der Forscher verstarb vor der Bekanntgabe durch das Komitee. (Foto: AP)

Das Trio wirkte aber ein wenig zusammengewürfelt. Alle drei arbeiteten zwar auf dem Gebiet der Immunologie, aber Steinman beschäftigte sich mit einem Zweig, der ein gutes Stück von dem der anderen entfernt ist. Seit einiger Zeit schon litt der 68-Jährige an Bauchspeicheldrüsenkrebs, das war kein Geheimnis in der Immunologenszene. Womöglich wollte ihm die Nobelversammlung die große Ehre deshalb noch zuteil werden lassen.

Doch der Tod kam dem Gremium zuvor. Bereits am 30. September ist Ralph Steinman verstorben, wie sein letzter Arbeitgeber, die Rockefeller-Universität, mitteilte, nachdem die Neuigkeit von der großen Ehrung bereits die Runde gemacht hatte. Die Nobelversammlung hatte die Namen verkündet, bevor sie, wie sonst üblich, alle Preisträger persönlich erreicht hatte. Nun steht das Gremium vor einem Problem: Nobelpreise dürfen gemäß der Statuten nicht posthum vergeben werden.

Die traurige Nachricht überschattet nun das freudige Ereignis. Die beiden verbleibenden Preisträger hatten sich zunächst uneingeschränkt gefreut. "Toll!", mögen sie sogar gerufen haben, als sie von ihrer Auszeichnung hörten. Auch wenn kein Deutscher unter ihnen ist: Was das deutsche Wörtchen "toll" bedeutet, wissen die beiden Laureaten nur allzu gut.

Ihr halbes Leben lang haben sie sich mit Varianten eines Gens beschäftigt, das die deutsche Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard einst "toll" nannte, weil ihr beim Anblick seiner radikalen Auswirkungen auf den Leib einer Fliege eben dieser Audruck der Begeisterung entfuhr. Was Nüsslein-Volhard damals noch nicht wusste: Das Gen ist nicht nur bei der Embryonalentwicklung wichtig, sondern auch für die Abwehr von Krankheitserregern.

Das fand einer der diesjährigen Preisträger eher zufällig heraus. Jules Hoffmann arbeitete in den 1990er-Jahren mit Fruchtfliegen der Gattung Drosophila, bei denen das Toll-Gen nicht richtig funktionierte. Als er die Insekten mit Bakterien oder Pilzen infizierte, starben die Forschungsobjekte wortwörtlich wie die Fliegen. Offenbar versagten die Tiere, die der heute 70-jährige Hoffmann mit seinem französischen Akzent auf hinreißende Weise "Drosophilaaa" nennt, bei der Abwehr der Mikroorganismen. "So hatte sich der stets adrett gekleidete Immunologe, der wegen seiner perfekten Manieren und der gewählten Ausdrucksweise eigentlich gar nicht so richtig ins 21. Jahrhundert passt, plötzlich an die Weltspitze katapultiert", sagt Christine Falk von der Medizinischen Hochschule Hannover.

Auch dem 53-jährigen Bruce Beutler vom Scripps Research Institute in Kalifornien fiel die wichtige Rolle von Toll für die Immunabwehr auf. Und zwar nicht nur bei Fliegen, sondern auch bei Mäusen. Jene Moleküle, die Toll-Signale in den Zellen weiterleiten und denen humorbegabte Forscher so erhellende Namen wie "Cactus", "Spaetzle" und "Semmelweis" gaben, wurden auch bei höheren Wesen gefunden. Manche Abwehrmechanismen schienen also von der Fruchtfliege bis zum Menschen im großen und ganzen auf gleiche Weise zu funktionieren..

"Die Nobelpreisträger haben unser Verständnis des Immunsystems revolutioniert", verkündete die Nobelversammlung am Montag. Dies könne zu einer ganz neuen Art von Medikamenten oder Impfstoffen beitragen, welche die Funktionsweise des Immunsytems ausnutzen.

Das Leben ist ein ständiger Kampf. Tagaus, tagein versuchen Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten, sich in der wohligen Wärme des menschlichen Körpers auszubreiten und seine Vorzüge für sich zu nutzen. Da das für den Menschen aber meist negative Folgen hat, hat er zwei Reihen von Verteidigungslinien errichtet: das angeborene und das spezifische Immunsystem.

"Die Nobelpreisträger haben unser Verständnis des Immunsystems revolutioniert", heißt es in der Begründung der Nobelversammlung. (Foto: AFP)

Alles rund um Toll gehört zur uralten, angeborenen Immunität. Schon primitive Lebewesen nutzen diese Art Abwehrstrategie gegen Keime, die im Laufe der Evolution immer weiter perfektioniert wurde. An menschlichen Immunzellen sind inzwischen bereits zehn verschiedene Toll-ähnliche Antennenmoleküle (Toll-like Receptors) bekannt. Sie alle haben unterschiedliche Aufgaben - manche reagieren eher auf Viren, andere eher auf Bakterien. Entsprechend aktivieren sie auch unterschiedliche Zellen des Immunsystems.

"Diese uralte Art, auf feindliche Angreifer aus der Mikrobenwelt zu reagieren, ist vor allem eines: blitzschnell", sagt Peter Krammer, Leiter der Immungenetik am Deutschen Krebsforschungszentrum. Allerdings ist ihre Reaktion nicht besonders ausgeklügelt. Dafür entwickelte sich im Laufe der Evolution zusätzlich das spezifische Immunsystem mit seinen Antikörpern, Helfer- und Killerzellen. Es soll dem angeborenen beistehen, um Keime gezielt auszuschalten.

An der Verbindung zwischen diesen beiden Verteidigungslinien arbeitete der verstorbene Ralph Steinman. Schon im Jahr 1973 hatte er die wichtigen Vermittler zwischen den Abwehrposten entdeckt, die er wegen ihrer ebenso bizarren wie hübsch anzusehenden langen Ausläufer "dendritische Zellen" nannte. Diese Zellen vermitteln offenbar Signale des angeborenen Immunsystems an T-Zellen und beeinflussen so deren Reaktion.

In ersten klinischen Studien versuchen Forscher zurzeit, die dendritischen Zellen mit Eiweißen von Krebszellen zu beladen, damit sie die körpereigenen Abwehrkräfte auf den Krebs lenken. Das Immunsystem schützt nämlich nicht nur vor Mikroben, "es kann auch Tumorzellen bekämpfen", sagt Adelheid Cerwenka, die auf diesem Gebiet am Deutschen Krebsforschungszentrum arbeitet. Mitunter aber führen die Verteidigungslinien auch Kollateralschäden an der Gesundheit des eigenen Körpers herbei. Krankheiten wie Rheuma oder Multiple Sklerose sind Folge einer überschießenden Immunreaktion. Ein tieferes Verständnis des Immunsystems könnte auch hier zur Entwicklung neuer Medikamente führen.

Gleichwohl werden nicht alle Menschen "toll!" gerufen haben, als sie die Namen der diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger hörten. Tief getroffen wird nach Ansicht der Szene Ruslan Medzhitov von der Yale University sein, der wie Bruce Beutler seit vielen Jahren mit größtem Erfolg an den Toll-ähnlichen Rezeptoren forscht. Anders als Beutler ist Medzhitov allerdings der Ansicht, dass die Toll-Eiweiße nicht nur aktivierend auf das Immunsystem wirken, sondern mitunter auch mäßigend. Mäßigend wirkte die Forschung auf die Forscher allerdings nicht. Die Feindschaft zwischen Medzhitov und Beutler gilt als legendär. Nicht selten haben sich die beiden auf Tagungen angebrüllt, weil sie Ergebnisse verschieden interpretieren. Der Streit sei ausgesprochen bösartig und verletzend verlaufen, sagen Insider.

Dank seiner gepflegten Umgangsformen hat Jules Hoffmann immer zwischen den beiden vermittelt. Diese Aufgabe muss er nun nicht übernehmen, wenn am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, der schwedische König den Preis übergibt, obwohl durch den Tod Steinmans eigentlich noch ein Platz frei wäre. Die Feier wird wohl in Eintracht verlaufen.

Mit Bruce Beutler versteht sich der Gentleman aus Luxemburg bestens, der sich selbst bei seinem Hobby, dem Wandern, niemals nachlässige Kleidung oder gar einen Fleck auf der Hose erlaubt. Bei einem gemeinsamen Ausflug in den Alpen suchte der deutschstämmige Beutler einmal nach dem deutschen Wort für seinen "Wanderführer" Hoffmann - und nannte ihn, sehr passend, seinen "Spaziergangsfürst".

Die Preisträger des Nobelpreises für Physik werden am 4. Oktober um 11.45 Uhr hier verkündet. Der Live Webcast aus Stockholm ist hier zu sehen.

Podcasts deutsche Nobelpreisträger können Sie sich auf den Seiten der Max-Planck-Gesellschaft anhören.

© SZ vom 04.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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