Massentierhaltung:In den Magen, aus dem Sinn

Tiere, die ihr kurzes Leben knietief im eigenen Kot verbringen - das ist perverser als ein Luftangriff auf einen Zoo. Aber der Luftangriff stört uns viel mehr. Warum eigentlich?

Tim Neshitov

Emir Kusturicas Film "Underground" beginnt mit dem Angriff der Luftwaffe auf Belgrad 1941. Die ersten Bomben fallen auf einen Zoo. Es ist Frühstückszeit, der Tiger bekommt seine 20 Kilo Fleisch, aber er frisst nicht, er spürt bereits, dass die Flugzeuge kommen. Eine Bombe trifft einen Teich voller Gänse, ein Affenbaby springt dem Zoowärter auf den Arm, der verletzte Tiger kann nicht mehr aufstehen, vor ihm schlackert eine Gans, sie pickt dem Tiger in die Nase, zwischen die Augen, in die Augen, bis sich der Tiger auf die Gans wälzt.

Fleischkonsum

Später irrt der Zoowärter mit Äffchen und Pony in den Trümmern umher, und sein Taufpate sagt: "Weine nicht, ich werde dir einen neuen Zoo bauen, und die Tiere wird man nun sowieso essen." Der Taufpate hat eine schwarze Katze mitgebracht, er putzt mit dieser Katze seine schwarzen Schuhe ab und gibt dem Zoowärter etwas Geld. "Kauf deinem Äffchen Milch und hör auf zu weinen, sonst lachen dich die Deutschen noch aus."

Der Film gewann 1995 die Goldene Palme in Cannes. Kusturica ging es nicht um Tiere, sondern um Menschen im Krieg. Tiere im Bombenhagel taugen einfach gut dazu, die Absurdität eines Krieges zu zeigen. Es ist absurd, Gänse zu bombardieren. Die Szene zeigt aber auch, wie vielfältig und irrational unser Verhältnis zu Tieren ist. Ein Krieg von Menschen gegen Tiere erscheint aus irgendeinem Grund perverser als ein Krieg von Menschen gegen Menschen. Und aus irgendeinem Grund stört uns die Vorstellung, dass sich ein Mann, der Katzen als Schuhbürsten benutzt, gleichzeitig um Affenbabys sorgen kann.

Dabei handelt dieser Mann nicht anders als ein Kind, das sich bei McDonald's ein "Happy meal" bestellt und ein Stück Burgerbrötchen aufhebt, um Tauben zu füttern. Das Kind hat beschlossen, dass einige Tiere liebenswert sind und andere - die man zu Burgern verarbeitet - zwar auch liebenswert, aber eben in dem Sinne, dass sie schmecken. Sie dienen einem Zweck des Menschen, der Ernährung, und zwar nur, weil der Mensch sie zu diesem Zweck bestimmt hat.

Auf Ernährung kann niemand verzichten, aber der Mensch käme biologisch auch ohne Fleisch aus, jeder Mensch. Mit einer Katze könnte man auch Schuhe putzen, aber man muss das nicht. Die Funktionen, die wir Tieren zuschreiben, sind willkürlich, auch wenn Tiere diese Funktionen in zigter Generation erfüllen. Das zeigt die Szene mit der Katze.

Das McDonald's-Kind hat natürlich nichts mit dem Kopf beschlossen. Ihm ist kaum bewusst, dass es eine Kuh isst beziehungsweise ein Stück Fleisch, in dem Hunderte Kuhteile zusammengehackt sind. Das Kind isst einen Burger so, wie es einen Apfel essen würde, es weiß nicht viel von der Massentierhaltung, von Bullen, die ohne Betäubung kastriert und gebrandmarkt werden, von Kühen, die knietief im eigenen Kot stehen und, wenn sie Pech haben, lebendig gehäutet werden.

Das Ziel: Geldvermehrung der Fleischindustrie

Das Kind der Generation YouTube hat wahrscheinlich nicht den Film "Meet your meat" gesehen. Der Film wurde von Vegetariern gedreht, also von überzeugten Befangenen, aber er verdreht keine Fakten, sondern fasst das Wesen der Massentierhaltung anschaulich zusammen. Click-Rekorde bricht er keine - obwohl die Stimme im Off Alec Baldwin gehört.

Man muss kein Vegetarier sein, um zu ahnen, dass Massentierhaltung nicht nur der Ernährung der Menschheit dient, sondern auch der Geldvermehrung der Fleischindustrie. Jeder Erwachsene, der es wissen will, weiß, dass Massentierhaltung Tierquälerei bedeutet. Man könnte das, was weltweit Milliarden Kühen, Hühnern und Schweinen widerfährt, einen Krieg von Menschen gegen Tiere nennen.

Dieser Krieg wäre noch perverser als ein Luftangriff auf einen Zoo, denn die Fleischindustrie will die Tiere ja keineswegs vernichten. Im Gegenteil: Sie produziert immer neue Tiere. Sie manipuliert ihr Erbgut, züchtet Monster heran, deren einziger Lebenszweck darin besteht, dieser Welt möglichst viel Brustfilet, Fett, Bauchlappen oder Eier zu hinterlassen. Diese Wesen sterben auf eine Weise, die jeden Schnitzelgenießer empören würde, wären im Keller des Nachbarn ein paar Katzen oder Hamster auf ähnliche Art umgekommen. Aber das Fleisch dieser Wesen schmeckt.

Und weil es schmeckt, sehen wir in der Massentierhaltung keinen Krieg gegen Tiere. Keiner hat ja den Tieren auch offiziell einen Krieg erklärt. Industrielle Mastbetriebe bestimmen zwar den Inhalt unserer Kühlschränke seit drei Jahrzehnten, aber sie haben die Art, wie wir über Tiere denken, kaum verändert.

Der Abschied von der traditionellen Landwirtschaft hätte für das Massenpublikum Fragen aufwerfen können, mit der sich bisher Philosophen und Zoologen beschäftigten: Wo liegen die Grenzen zwischen Mensch und Tier? Wie empfinden Tiere Schmerz? Wie viel Schmerz können wir verursachen und uns trotzdem wohl fühlen?

René Descartes (1596-1650) war überzeugt, dass Tiere weder Freude noch Schmerz empfinden. Ihre Schmerzensschreie seien unbewusste Reflexe, "wie das Quietschen einer Tür". Im 20. Jahrhundert beschloss Martin Heidegger: "Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend." Unsere Neigung, den Menschen in den Mittelpunkt des Universums zu stellen, führt zu der Neigung, Tierrechte von der Ähnlichkeit der Tiere mit uns selbst abhängig zu machen. Immer mehr Tierforscher fordern Grundrechte für Menschenaffen, weil deren Erbgut mit dem unseren bis zu 99,4 Prozent gleich sei.

Im Verhältnis zu Tieren sind alle Menschen Nazis", schrieb Isaac B. Singer, jüdischer Schriftsteller, Vegetarier und Nobelpreisträger. "Für die Tiere ist es ewiges Treblinka."

Das klingt unerhört, ist aber lediglich ein weiterer Versuch, den Anthropozentrismus zu überwinden. Bereits Michel de Montaigne fragte im 16. Jahrhundert: "Aufgrund welchen Vergleichs zwischen ihnen und uns schließt der Mensch auf die Dummheit, die er ihnen zuschreibt?"

Jacques Derrida war bis zu seinem Tod 2004 gegen den pauschalen Begriff Tier in Abgrenzung zum Menschen, weil dieser Begriff der Vielfalt der Tierwelt von der Ameise bis zum Affen nicht gerecht werde. Trotzdem aß Derrida gelegentlich Tiere. Geist und Magen können manch dialektischen Widerspruch aushalten.

Schweinshaxe oder Hundepenis

Massentierhaltung

Das eine Tier wird ins Herz geschlossen - das andere verspeist.

(Foto: oH)

So wie Philosophen versuchen, den "Menschen" in Abgrenzung zum "Tier" zu definieren, definieren sich Nichtphilosophen oft darüber, welche Tiere sie essen oder nicht essen. In China kann man einen Hundepenis für 1,50 Dollar kaufen. Was sagt die Tatsache, dass jemand einen Hundepenis isst, über diesen Menschen aus?

Eigentlich nicht viel. Nicht mehr als die Tatsache, dass jemand Füße von Schweinen isst oder Lebern von Gänsen. Schweine sind genauso intelligent wie Hunde, und laut chinesischen Kochbüchern schmecken Hunde mindestens so gut wie Schweine. Aber wer wünscht sich einen Menschen zum Freund, der sich gelegentlich einen Hundepenis gönnt? Ein Schweinshaxenesser versteht sich immer noch besser mit einem Vegetarier als mit einem Hundepenisesser. Das nennt man "kulturellen Hintergrund". Es gibt auch den religiösen Hintergrund. Der ist interessant, weil rituelle Schlachter es schaffen, ihr Mitleid auszuschalten, in dem sie das Leid des Tieres sakralisieren.

Mitleid gilt als eine Fähigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Mensch besitzt aber auch die Fähigkeit, sein Mitleid zu steuern. Warum sonst nimmt man an, dass Fische keinen Schmerz spüren, nur weil sie immer still bleiben? Oder wenn sie doch Schmerz empfinden, etwa wenn sie am Angelhaken zappeln, warum ruft dieser Schmerz in uns kein Mitleid hervor, über das man sprechen könnte, ohne selbst bemitleidet zu werden? Mitarbeiter von Mastbetrieben schalten ihr Mitleid aus, indem sie das Leid der Tiere professionalisieren. Menschen, die Hähnchenragout mit Sahne genießen, blenden das Leid dahinter einfach aus.

Statt Selbstreflexion hat die Massentierhaltung also eine Kulturtechnik verstärkt, auf die man heute angewiesen zu sein glaubt - Ausblendung. Wir können digital so viele Kriege und Naturkatastrophen verfolgen, dass wir sie gar nicht verarbeiten können. Das Prinzip "Aus den Augen, aus dem Sinn" funktioniert nicht immer, da manche Bilder allgegenwärtig sind. Aber das Prinzip "In den Magen, aus dem Sinn" funktioniert.

Tiere essen natürlich auch Tiere. Aber sie müssen sich dafür nicht rechtfertigen.

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