Konfliktforschung:Wie man einen Krieg verhindert

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In westlichen Kulturen wird Unrecht geahndet, indem man die Täter bestraft. Ein Volk in Papua-Neuguinea hat eine andere Strategie, um Konflikte und Kriege zwischen einzelnen Clans zu vermeiden: Täter müssen Opfer entschädigen.

Sebastian Herrmann

Krieger eines Clans der Enga in Papua-Neuguinea führen einen Scheinangriff auf Angehörige eines anderen Clans aus. Sie unterstreichen damit ihre Forderung auf eine Entschädigung für den Tod eines Verwandten. (Foto: Polly Wiessner)

Auf Papua-Neuguinea herrscht quasi ständig Krieg. Seit Jahrhunderten fechten die Angehörigen verschiedener Clans aus der Volksgruppe der Enga Konflikte aus. Dabei geht es um Ressourcen, um Rache, Stolz, Ehre und das ganze andere Repertoire, das Menschen dazu bringt, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Die Anthropologin Polly Wiessner von der Universität von Utah studiert die Kultur der Enga seit 1985 und hat dabei das Wechselspiel zwischen kriegerischer Eskalation und Frieden beobachtet und analysiert.

"Unsere Studie zeigt, dass sich selbst kleine, vorstaatlich organisierte Gesellschaften aus der Spirale der Gewalt befreien können", sagt Wiessner. Die Enga lieferten die kostbare Gelegenheit "den Aufbau friedenstiftender Institutionen zu beobachten und deren Wirksamkeit zu bewerten", sagt die Anthropologin ( Science, Bd. 337, S. 1593, 2012).

Die Kriege der Enga erlangten 1990 eine neue Dimension, als sich junge Männer erstmals mit Schnellfeuergewehren ausrüsteten. Doch seit wenigen Jahren herrscht wieder Frieden unter den Enga. Die entscheidende Rolle bei der Beilegung der Konflikte scheint das Prinzip der sogenannten "restaurative justice" zu spielen, das durch Dorfräte seit Kurzem ausgeübt wird.

Unrecht wird dabei nicht wie im westlichen Justizsystem geahndet, indem man nur den Täter bestraft. Statt dessen werden die Opfer durch die Täter entschädigt, sogar bei schweren Verbrechen. Wiessner berichtet von einem Fall, bei dem ein Enga-Mann eine Mutter von fünf Kindern vergewaltigt und getötet hat. Der Dorfrat verurteilte den Täter dazu, den Witwer materiell zu entschädigen, so dass dieser wieder heiraten und seine Kinder versorgen konnte. Kompensation "hilft, die Herzen der Menschen zu verändern", folgert Wiessner.

Das mag dem westlichen Empfinden von Gerechtkeit widersprechen, doch offenbar hilft es, den Frieden und die Beziehungen zwischen Gemeinschaften zu festigen. Laborstudien hätten gezeigt, dass diese Form der Vergeltung Rachegefühle stärker dämpfe als die reine Bestrafung des Täters, kommentiert der Psychologe Michael McCullough von der Universität Miami in Science. Und offenbar funktioniert dieses System der Justiz auch, um zerstrittene Clans und Gesellschaften zu befrieden. In den Kriegsjahren hätte eine Vergewaltigung zu tödlichen Gefechten geführt.

"Das ist eine brillante Arbeit", zitiert das Fachblatt Science den Harvard-Psychologen Steven Pinker, der die These vertritt, dass die Rate der Gewalt in vorstaatlich organisierten Gemeinschaften wesentlich über der moderner Gesellschaften lag und sich erst durch die Entstehung staatlicher Institutionen eindämmen ließ. Wiessner zeige nicht nur, dass sich die Rate von Gewalt in verschiedenen Gesellschaften unterscheide, "sondern sie hat versucht zu erklären, warum diese sich unterscheidet und insbesondere wie diese Gemeinschaften die Gewalt durch junge Männer eindämmen können", sagt Pinker.

Ein Dorf brennt. Weil die Enga seit 1990 Schusswaffen einsetzen, ist die Zahl der Toten unter ihnen gestiegen. (Foto: Polly Wiessner)

Die Enga blicken auf eine lange Historie gewaltsamer Konflikte zurück. Seit mindestens 350 Jahren kämpfen Clans von 500 bis 1000 Menschen um Äcker zum Anbau für Süßkartoffeln sowie um Schweine. Auch früher gab es bereits das Prinzip der Befriedung durch Kompensation - meist indem Schweine bei rituellen Veranstaltungen übergeben wurden. Doch die Kolonialherrschaft der Australier verdrängte diese Traditionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Vor 1990 fochten die Clans ihre Kriege mit Pfeil und Bogen aus - Feuerwaffen lehnten sie aus einer Art Ehrenkodex ab. Die Zahl der Opfer der einzelnen Auseinandersetzungen blieb dadurch moderat: Zwischen 1900 und 1950 lag sie im Durchschnitt bei 3,7 Toten pro Krieg.

Als dann schwer bewaffnete junge Krieger ins Feld zogen, schnellte die Zahl der Opfer in die Höhe. Zwischen 1991 und 2000 starben 17,8 Menschen pro Konflikt. Zwischen 1991 und 2010 fochten Enga-Clans 501 Kriege aus, die 4816 Tote forderten - fast ein Prozent der etwa 500 000 Enga auf Papua Neuguinea verloren ihr Leben. "Missionen und Schulen wurden niedergebrannt, ganze Täler entvölkert, Tausende Menschen waren auf der Flucht", schreibt Wiessner.

Die kriegsmüde Bevölkerung entzog den Söldnerbanden die Unterstützung und stärkte von 2005 an den Wiederaufstieg der Dorfräte. Diesen gelang es, Frieden zu stiften, indem sie auf die "sozialen Techniken vergangener Jahrhunderte setzten, um die Folgen moderner Technologie einzudämmen", sagt Wiessner. Die Restauration des Systems materieller Wiedergutmachung wirkte: Die Zahl der Konflikte und der Opfer sinkt seit 2005.

Kulturen mit einer besonderes kriegerischen Geschichte, seien oft am besten darin, auch wieder Frieden zu schließen, sagt John Braithwaite von der Universität Canberra, der "restaurative justice" erforscht. Doch ob der Frieden hält, sei ungewiss, so Wiessner. Die Enga-Gemeinschaften verändern sich. Angehörige ziehen in Städte, die Verbindungen in den Clans werden loser. Und ob ein Clan bereit ist, Entschädigung für das Verbrechen eines Mitglieds anzubieten, das weit weg wohnt und das kaum einer kennt, sei ungewiss.

© SZ vom 28.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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