200 Jahre Darwin (24):"Wir beeinflussen die Evolution der Erde"

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Seit 21 Jahren verfolgen Biologen einen Bakterienstamm sowie seine Nachkommen und beobachten dramatische evolutionäre Sprünge der Mikroben.

Hanno Charisius

In einem Labor der Michigan State University in East Lansing, hinten in der Ecke, tanzt ein Tisch. Seit 21 Jahren ist der sogenannte Schüttel-Inkubator mit den darauf festgeschnallten Glaskolben die Heimat von zwölf Kulturen von Escherichia-Coli-Bakterien. Sie stammen alle von einer einzelnen Zelle ab; ihre Klone hat Richard Lenski am 24.Februar 1988 in zwölf Fläschchen mit Nährlösung gegeben. Seitdem verfolgt der Biologe die Evolution im Zeitraffer, denn seine zwölf Kulturen haben mittlerweile fast 50.000 Generationen hinter sich. Die ursprünglich bis auf ein Marker-Gen identischen Kulturen haben längst unterschiedlich große Bakterien mit neuen Fähigkeiten hervorgebracht. Alle teilen sich unter den Bedingungen in Lenskis Labor schneller als ihr Urahn.

Jeden Morgen geschieht im Labor das Gleiche: Der Mitarbeiter vom Dienst tritt an den Rütteltisch, nimmt mit einer Pipette einen Zehntel Milliliter aus jeder Kulturflasche heraus und beimpft damit jeweils einen Kolben mit frischer Nährlösung. Diese stellt er in den Inkubator und gibt den Bakterien bei kuscheligen 37 Grad Celsius einen weiteren Tag lang Zeit und Energie, sich sechs- oder siebenmal zu teilen. Alle 500 Generationen werden Proben eingefroren, um sie später mit Vorfahren und Nachkommen vergleichen zu können.

Lenskis Experiment ist schon aufgrund seiner Dauer einzigartig. An keinem anderen Lebewesen könnten Forscher die Evolution so lange so detailliert verfolgen wie an Bakterien. Menschen bräuchten eine Ahnenreihe von einer Million Jahren, um 50.000 Generationen zu vollenden. "Wir messen den Prozess, den Charles Darwin entdeckte, indem wir die jüngsten Bakteriengenerationen gegen ihre Vorgänger antreten lassen", sagt Lenski. "Stellen Sie sich vor, wir würden den Homo erectus wiederbeleben und gegen ihn im Fußball oder im Schachspiel antreten."

Mit dem ganzen Aufwand möchte der Biologe eine der zentralen Fragen seiner Wissenschaft beantworten: Strebt die Evolution einem Ziel entgegen oder verläuft sie vollkommen chaotisch? Heute sieht er viele Parallelen unter seinen Kulturen, aber auch pointierte Unterschiede. Vieles, was in den Kolben passiere, "widerspricht der Intuition", sagt Lenski, der soeben eine Zwischenbilanz über 40.000 Generationen E. coli veröffentlicht hat ( Nature, online).

In den ersten Monaten seines Experiments verlief der Anpassungsprozess in allen zwölf Linien am schnellsten. Die einzelnen Zellen wurden größer und wuchsen schneller als ihre Urahnen zu Beginn des Experiments. Das Tempo der Veränderung und die maximale Größe war jedoch in jedem der Gefäße anders. Um die Mikroben herauszufordern, gab Lenski nur eine geringe Menge Zucker als Futter in die Nährlösung, das bereits nachmittags verbraucht war. Dieser Mangel verschaffte den Schnellentwicklern unter den Bakterien einen Vorteil.

In den Kolben vollzieht sich der von Darwin beschriebene Doppelschritt der natürlichen Selektion. Die normalerweise im Darm lebenden Mikroben entwickeln zufällige Mutationen in ihren Genen. Und wenn es ihnen diese Veränderung im Erbgut erlaubt, sich besser fortzupflanzen, haben sie schon bis zur nächsten Fütterung vier oder fünf Zellteilungen lang die Chance, den Vorteil auszubauen. "Auf der einen Seite sind Mutationen Zufallsereignisse, sodass sich die einzelnen Zelllinien tendenziell auseinander entwickeln", sagt Lenski. Auf der anderen Seite bevorzugten die Selektionsmechanismen die gleichen Anpassungen in jedem der Gefäße. "Wir haben deshalb viele Fälle von paralleler Evolution gesehen."

Alle zwölf Linien trugen nach einigen Monaten ähnliche Mutationen in verschiedenen Genen. Vergleichbares beobachtete Bernhard Palsson von der University of California in San Diego, als er Bakterien auf einem Nährstoff wachsen ließ, den sie nicht gut verwerten können. Bei nahezu jedem Versuch konnten seine Zellen nach etwa 44 Tagen fast doppelt so schnell auf dem ungeliebten Stoff wachsen als die Gründer der Mikrobenpopulation.

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:Evolution im Zeitraffer

Julian Adams von der University of Michigan schuf in einem ähnlichen Experiment in den frühen 1990er-Jahren eine künstliche Nahrungskette: In seinen Glaskolben entwickelten sich spontan und reproduzierbar Bakterien, die von den Abfallprodukten der ursprünglichen Siedler lebten. Die Evolution schien demnach wiederholbar zu sein, musste also eine Richtung haben. Eine schön klare Antwort, wenn sich nicht in einigen von Lenskis Glaskolben etwas Einzigartiges passiert wäre.

Bei Generation 26500 schaltete die Kultur A-1 sozusagen in einen höheren Gang. Eine Veränderung im Erbgut machte weitere Mutationen viel wahrscheinlicher. Hatten die Forscher in den ersten 20.000 Generationen 45 Mutationen gezählt, waren es in den zweiten 20.000 mehr als 600. Im Gegensatz zur ersten Hälfte des Experiments verhalfen die veränderten DNS-Sequenzen den Bakterien aber kaum noch zu weiteren Überlebensvorteilen.

Verblüffender noch war der Wandel bei Generation 33120. Da bemerkten die Forscher in der Kulturflasche mit der Beschriftung A-3 ein dramatisches Wachstum. Die Mikroben trübten die Nährlösung, so sehr war ihre Zahl angestiegen. Sein erster Gedanke war, erinnert sich Lenski an die Ereignisse vor etwa sechs Jahren, dass es sich dabei um eine Verunreinigung mit fremden Mikroben handeln müsse. Doch die Untersuchung der Bakterien ergab, dass einige von ihnen plötzlich in der Lage waren, das zugegebene Citrat als Nährstoff zu verwerten. Die Forscher hatten diese Chemikalie in die Lösung gegeben, um Verunreinigungen mit andern Bakterien aufzuspüren.

Viele Mikroben außer der verwendeten E. coli-Art wachsen auf Citrat wie verrückt. Lenskis Bakterien konnten dies ursprünglich nur bei Sauerstoffmangel. Doch dann trat plötzlich eine Mutation im Gefäß A-3 auf, mit der es die Mikroben auch bei Anwesenheit von Sauerstoff schafften. Sie hatten einen evolutionären Sprung getan. In keiner der übrigen elf Bakterienkulturen ist diese Anlage bisher aufgetreten.

Also warf Lenskis Team die Zeitmaschine an - sie entnahmen dem Gefrierschrank alte Proben der Kultur A-3, tauten sie auf und schickten sie erneut auf den Evolutions-Trip. Mikroben, die vor der Generation 20.000 eingefroren worden waren, entwickelten nie wieder die Fähigkeit, Citrat zu verdauen. Bei jüngeren Proben hingegen trat die Gabe wieder auf, blieb aber extrem selten: Nur etwa eine von einer Billion Zellen entwickelte die nötige genetische Ausstattung.

Seither rätseln die Forscher, was in den Bakterien über 13.000 Generationen reifen musste. Lenski vermutet, dass eine Kette von Mutationsereignissen und nicht eine einzelne Genveränderung zu der Citratnutzung geführt hat. Zwei Varianten sind denkbar: In der 20.000. Generation könnte die erste von mehreren Mutationen geschehen sein, die für die Citrataufnahme notwendig ist. Oder aber es war eine Veränderung, die den Boden für eine entscheidende Mutation bereitet hat, ohne selbst etwas zu der neuen Fähigkeit beizutragen. In jedem Fall wäre es ein Beleg für eine Hypothese des berühmten, verstorbenen Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould. Er vermutete, das Leben auf der Erde würde einen ganz anderen Verlauf nehmen, wenn man den Film der Evolution zurückspulen und neu starten könnte.

Bis Lenskis Team genaueres weiß, könnten Jahre vergehen. Fast sechs Jahre dauerten allein die Re-Evolutionsexperimente von der 20000. Generation an. Lenskis Mitarbeiter Zachary Blount untersuchte dabei so viele Bakterienklone, dass die zugehörigen Schalen mit den Nährböden ein halbes Labor füllen, wie ein Youtube-Video zeigt.

Schon jetzt läuft das gesamte Experiment lang genug, dass jeder einzelne Genbaustein im E. coli-Genom einmal mutiert sein könnte. Doch es gibt offenbar Genabschnitte, die viel empfänglicher für Zufallsveränderungen sind als andere. "Einige evolutionäre Veränderungen sind offenbar leicht wiederholbar, andere nicht", sagt Lenski. Warum das so ist, hält er für eine der aufregendsten Fragen, auf die es noch keine Antwort gibt.

Die Lösung des Rätsels hätte Bedeutung weit über sein Labor hinaus, sagt Lenski. Wie auf seinem Rütteltisch verändern sich auch die Bakterien im menschlichen Körper - zum Beispiel werden Krankheitserreger unempfindlich gegen Medikamente. Antibiotikaresistente Bakterien töten jedes Jahr Tausende von Menschen, weil die Mikroben gelernt haben, sich der Wirkung der Substanzen zu entziehen. Auch dabei hat ihnen die Evolution geholfen. Im Kampf gegen den Aids-Erreger HIV haben die Ärzte mit dem gleichen Problem zu tun, weshalb sie stets Kombinationen aus verschiedenen Medikamenten verordnen. Wenn dann ein Virusmutant zufällig immun gegen einen der Wirkstoffe wird, kann ihn ein anderer erledigen.

"Wir beeinflussen die zukünftige Evolution auf der Erde", sagt Lenski. Die Menschen bauen den Planeten nach ihren Vorstellungen um und verändern das Klima. Diese veränderten Bedingungen üben einen Selektionsdruck auf die Lebewesen aus, und die Natur reagiert mit Anpassung, so wie sie es immer getan hat. "Wir müssen über die evolutionären Folgen unseres Tuns nachdenken", fordert der Biologe.

© SZ vom 20.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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