Historie:Ice Age

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Die Antarktis hat ihren Erforschern schon im 19. Jahrhundert alles abverlangt. Ein Fotograf hat jetzt das Leben auf der Polarstation Halley VI dokumentiert.

Von Jan Heidtmann

Draußen toben orkanartige Stürme mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 Kilometern in der Stunde. Die Temperatur kann dann auf minus 55 Grad fallen, einem Menschen gefriert dabei tatsächlich das Blut in den Adern. Schnee und Eis, weit und breit. Und dem Architekten fällt nichts Besseres ein, die Bewohner seiner Polarstation ins Freie zu schicken. Der Aufenthaltsraum und die Laboratorien sind mit einem offenen Übergang verbunden - "damit sich die Leute nicht zu wohl fühlen". Sie sollen die Elemente zu spüren bekommen, sich daran erinnern, wo sie eigentlich sind: in der Antarktis, im "unbekannten Südland". Ein Kontinent größer als Europa, 13,2 Millionen Quadratmeter Eiszeit. Pinguine können hier leben, Seelöwen, Riesen-Kalmare. Aber keine Menschen. Die nächsten Siedlungen gibt es in Südgeorgien, das ist weit mehr als tausend Kilometer entfernt. Oder auf den Falklandinseln - ähnlich weit weg.

Wenn nach Monaten das erste Flugzeug erscheint, umgibt die Menschen hier etwas leicht Irres. Wie eingesperrte Tiere, die ausbrechen wollen

Weil sich hier die Sterne besonders gut beobachten lassen, bauten die Briten an dieser Stelle im Norden der Antarktis ihre erste Niederlassung, Halley I. Das war vor genau 60 Jahren, eher ein paar hölzerne Verschläge als eine Polarstation. Sie wurde vom Meer bedrängt und schließlich vom Schnee verschluckt, so wie auch die Nachfolger Halley II bis Halley V. Deshalb lautete der Auftrag an die Architekten von Halley VI: eine Station, die nicht im Meer versinken kann, die nicht vom Schnee gefressen wird. Eine Station, in der die Bewohner auch in 106 Tagen absoluter Finsternis nicht durchdrehen. Heraus kam eine Art Weltraum-Zug, der im Packeis gestrandet ist, Realität gewordene Science-Fiction für 26 Millionen Pfund. Dafür fließt zwischen den Doppelglasfenstern ein durchsichtiges Gel, das vor Kälte schützt.

Zwischen November und März, dem antarktischen Sommer, leben etwa 50 Männer und nur wenige Frauen auf der Station. Wer hierherkommt, muss vielseitig einsetzbar sein. Wie der Mechaniker, der auch Zähne ziehen oder der Elektriker, der auch eine Sauce Bolognese zubereiten kann. Halley VI besteht aus acht "Modulen" genannten Räumen: zwei zum wissenschaftlichen Arbeiten, zwei zum Schlafen, zwei für Generatoren und Treibhäuser, in denen Salat angebaut wird. Neben dem Kommandozentrum liegt der rote Gemeinschaftsraum, auf zwei Stockwerken gibt es eine Bibliothek, einen Fitnessraum mit Kletterwand und einen Billardtisch. "Im Innern der Basis ist es warm und gemütlich, sodass man tatsächlich vergessen kann, wo man ist", erzählt der britische Fotograf James Morris. Er hat mehrere Wochen auf Halley VI verbracht, nun sind seine Aufnahmen in dem Buch "Ice Station" bei Park Books erschienen. "Wie in jeder Organisation wird auch hier getratscht, meist über das Gehalt oder die Chefs", beschreibt Morris den Alltag auf der Basis. "Aber die Leute wollen wieder zurückkommen, Jahr für Jahr, so einzigartig ist das hier."

Die echte Härte beginnt im arktischen Winter, das letzte Schiff verlässt die Gegend Ende Februar. Acht Monate Einsamkeit folgen, irgendwann macht sich auch die Sonne davon und taucht erst nach Monaten wieder auf. Das Regiment ist dann rigide, die Routine soll helfen: Frühstück um 7.30 Uhr, Zigarettenpause um zehn, Mittag um eins, Teepause um vier und so weiter. Die Lampen im Innern simulieren das Tageslicht, Gerüche Wälder und Wiesen. Trotzdem, erzählt Morris: Wenn im September das erste Flugzeug wiederkommt, um die Wintermannschaft abzuholen, "umgibt sie etwas leicht Irres. Wie eingesperrte Tiere, die ausbrechen wollen".

Russen, Norweger, Amerikaner, Australier, Italiener, alle möglichen Nationen unterhalten in der Antarktis ihre Stationen, 40 sind es insgesamt. Halley VI ist die modernste und die erste, die vollständig von einem zum anderen Ort bewegt werden kann. Das ist wichtig, da sich die Briten für ihre Station eine schwierige Ecke der Antarktis ausgesucht haben. Halley VI steht nicht auf dem Festland, sondern auf der "Brunt Ice Shelf", einer riesigen Scholle aus Schelfeis. Sie ist ständig in Bewegung, 400 Meter pro Jahr driftet das Eis in Richtung Atlantik. Immer wieder fallen größere Stücke ab.

Halley VI wurde deshalb auf Skiern gebaut. Droht das Eis, auf dem die Station steht, ins Meer abzubrechen, werden die acht Module getrennt und können von jeweils zwei Bulldozern zu einem anderen Standort gezogen werden. Das zweite Problem der Antarktisstationen ist der stetige Schneefall, Jahr für Jahr wächst der Eispanzer um 1,2 Meter. Halley VI ruht deshalb auf hydraulischen Beinen. Architekt Hugh Broughton wurde sogar als Ratgeber zur Nasa eingeladen, so wegweisend waren einige seiner Entwicklungen.

Das Konterfei der Station ist auf Briefmarken zu finden, sogar auf einem Zwei-Pfund-Stück. Die Briten sind stolz auf ihren arktischen Flagship-Store. Halley VI ist endlich eine britische Erfolgsgeschichte am Südpol. Denn abseits von gefühligem Nationalstolz und anderem Historienkitsch muss man sagen: Die Südpol-Geschichte der einstigen Seefahrernation ist eher bescheiden. Britische Entdecker waren zwar wagemutig, auch heroisch, aber hier kamen sie regelmäßig zu spät.

James Cook ist 1774 der erste Engländer, der sich der Antarktis nähert. Er erkennt nur Packeis und dreht bei. "Nec plus ultra", bis hierher und nicht weiter, lautet das Fazit seiner Expedition. 1820 ist es ein russischer Seefahrer, der als Erster Land in der Antarktis entdeckt. Robbenjäger und Walfänger zieht es in die Region, doch das Innere des Kontinents bleibt "unerforschtes Gebiet", wie der deutsche Kartograf August Petermann 1875 festhält. Die großen Nationen liefern sich nun einen Wettlauf darum, den Südpol zuerst zu entdecken. Das sogenannte heroische Zeitalter hat begonnen. Im Dezember 1911 erreicht der Norweger Roald Amundsen den Südpol.

Deklassiert, will Sir Ernest Shackleton wenigstens der Erste sein, der die Antarktis durchquert. Die britische Presse jubelt: "ein Abenteuer im besten englischen Geist". Doch Shackleton scheitert. Von Frostbeulen und Unterernährung gezeichnet, treten er und seine 27 Männer am 8. April 1916 den Rückzug an.

70 Jahre später entdecken die Briten dann doch Weltbewegendes. Monatelang hatten englische Wissenschaftler in Halley III ausgeharrt. Als sie die Ergebnisse ihrer Forschung 1985 veröffentlichen, ist die Menschheit um eine Katastrophe reicher: das Ozonloch, eine großflächige Zerstörung der Atmosphäre durch das Kühlmittel FCKW. Den Industrienationen gelingt daraufhin etwas Einmaliges: Sie einigen sich auf ein Verbot des Giftes. Seit ein paar Jahren schließt sich das Ozonloch wieder.

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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