Gemischte Gefühle: Vertrauen:Riskante Erfindung der Moderne

Menschen brauchen Vertrauen zueinander und Gesellschaften benötigen das Vertrauen ihrer Mitglieder. Doch es sollte nicht blind sein.

Christian Weber

Dieses Gefühl benötigt jeder Mensch jeden Tag - spätestens dann, wenn er am Morgen die Tür öffnet und auf die Straße tritt.

Bergkletterer Vertrauen

Hält er mich? Ohne großes Vertrauen in die Fähigkeiten und Absichten des Kletterpartners wird niemand in eine Felswand steigen. Doch bei vielen Risiken der modernen Gesellschaft muss man auf die Funktionsfähigkeit eines abstrakten Systems vertrauen.

(Foto: datpiet/photocase.com)

Wenn alles geklappt hat in der frühen Bindungsphase, Mama und Papa sich gekümmert haben, wie es sich gehört, dann besitzt ein Mensch zumindest das Urvertrauen, dass es in der Welt mit rechten Dingen zugeht: dass die Sonne jeden Morgen aufgeht, ihm der Himmel nicht auf den Kopf fällt und der Kaffee aus dem Automaten im Büro zumindest nicht mit Absicht vergiftet wurde.

Dieses Grundvertrauen gehört zur Basisausstattung jedes psychisch gesunden Menschen und hat wahrscheinlich eine starke biologische Grundlage. Vor allem das gern "Kuschelhormon" genannte Neuropeptid Oxytocin scheint eine zentrale Rolle beim Aufbau von Vertrauen zu anderen Menschen zu spielen.

Es entsteht in der Hirnanhangdrüse unter anderem beim Stillen, Streicheln und Sex. Wenn man es Probanden verabreicht, gehen diese in spieltheoretischen Experimenten größere Risiken ein und vertrauen also ihrem Gegenüber eher.

Überraschend ist es nicht, dass Menschen so etwas wie Vertrauen entwickelt haben, denn ohne dieses kann Gesellschaft nicht funktionieren - so zumindest geht die gängige Theorie. Kein Mensch verfügt über genügend Informationen, um hundertprozentig abschätzen zu können, ob eine Handlung die gewünschten Folgen hat oder ob ein anderer Mensch genau das tut, was man von ihm erwartet.

Eheleute etwa können sich der Treue ihres Partner niemals völlig sicher sein. Nicht auszuschließen, dass der KFZ-Mechaniker vergisst, die Schrauben beim Reifenwechsel ordentlich anzuziehen. Wer weiß, wie frisch der Fisch im Restaurant wirklich ist? Ob es den Klimawandel wirklich gibt?

"Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität"

Wer jedes Risiko ausschließen wollte, müsste unvertretbar hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand treiben. Er müsste seinen Lebensgefährten rund um die Uhr von einem Privatdetektiv beschatten lassen und dem Mechaniker in der Werkstätte oder dem Koch in der Küche beständig über die Schulter schauen. Verschärft stellt sich dieses Problem in modernen, also extrem arbeitsteiligen und komplexen Gesellschaften, die auf spezialisiertes Wissen angewiesen sind.

Ob die Lebenszeit noch reicht, um neben dem erlernten Beruf zusätzlich Meteorologie, Chemie, Physik und Informatik so zu studieren, dass man auf Augenhöhe mit den Experten über den Treibhauseffekt diskutieren kann? Vertrauen sei ein "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität", schrieb der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann in einer klassischen Definition.

Diese Einsicht gilt für das gesamte Leben. Wer statt auf Vertrauen allein auf eigenes Wissen und Kontrolle setzen will, müsste unerträglich hohe Transaktionskosten zahlen. Die meisten Menschen gehen deshalb das Risiko des Vertrauens ein, zumal es Sanktionsmechanismen gibt. Wer einmal Vertrauen enttäuscht hat, tut sich schwer, es wiederzugewinnen. Und: Der Reputationsverlust überträgt sich auch auf die Beziehungen zu anderen Menschen - vorausgesetzt er wird allgemein bekannt.

Wer etwa würde noch eine KFZ-Werkstätte aufsuchen, von der bekannt ist, dass ihre Kunden ständig in seltsame Unfälle mit abfallenden Rädern verwickelt sind? Oder in das Fisch-Restaurant gehen, dessen Gäste so häufig unter einer Lebensmittelvergiftung leiden? Bezeichnend ist auch, wie sehr der eher periphere Skandal um die gehackten Emails der Klimaforscher an der University of East Anglia die Glaubwürdigkeit der Klimaforschung vor allem in weiten Teilen der USA und Großbritannien beschädigt hat.

Es ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie sehr die ursprünglich rein zwischenmenschliche Kategorie des Vertrauens in den gesellschaftlich und politischen Raum diffundiert ist. Nicht ohne Grund wird auch die globale Finanzkrise und jedes angebliche Versagen der politischen Klasse als Vertrauenskrise interpretiert. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die "Obsession für das Vertrauen" eine moderne Erregung ist, wie es die Historikerin Ute Frevert in ihrer Max-Weber-Vorlesung am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz formuliert hat. Frevert erforscht am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Geschichte der Gefühle und kam nach dem Studium der Quellen zu einem auf den ersten Blick überraschenden Schluss: "Vertrauen wurde in und durch die Moderne erfunden."

Zwar bestreitet auch Frevert nicht, dass ein gewisses Grundvertrauen wahrscheinlich eine anthropologische Konstante ist - schließlich lebten auch Menschen in vormodernen Gesellschaften nicht nur in Stammesverbänden, in denen jeder ausreichend Informationen über den anderen hatte, so dass man auf Vertrauen verzichten konnte. Denn schon sehr früh fingen Menschen an zu handeln und zu reisen, stießen dabei auf Fremde und stellten sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Frage: Kann ich dem trauen?

Allerdings postuliert Frevert, dass der Aufbau der modernen Institutionen, etwa eines verlässlichen Finanz- und Justizsystems, die Entwicklung von Vertrauen stark befördert hat. Wer heute einen 100-Euro-Schein entgegen nimmt, vertraut seiner Kaufkraft mit leichterem Herzen als der mittelalterliche Händler, der misstrauisch eine Goldmünze hin- und herdreht.

Ein Hoch-Risiko-Gefühl

"Die Tatsache, dass meine Rechte und Interessen durch das Gesetz, die Polizei und den Staat geschützt sind, macht es mir viel leichter, jemanden zu trauen, den ich nicht kenne", erläutert Frevert. Erst der moderne Mensch konnte es sich erlauben, Vertrauen ohne ökonomische Risiko-Nutzenabwägung zu gewähren, wie es heute noch in den spieltheoretischen Kalkulationen gemacht wird. "Wir modernen Menschen lieben es, zu vertrauen", versichert Frevert. "Wir fühlen uns glücklicher, wenn wir vertrauen können, und wir missbilligen es, wenn wir Menschen als argwöhnisch oder misstrauisch erleben."

Dagegen zeige der Blick etwa in alte Enzyklopädien, dass noch die Menschen des 18. Jahrhunderts den Begriff Vertrauen fast ausschließlich mit Gott verbanden - war dieser doch meist die einzige Anlaufstelle, wenn Hunger, Krankheit und Katastrophen drohten. Politische und ökonomische Systeme waren labil, rechtlicher Beistand unterentwickelt, Vertrauen in andere Menschen war ein Hoch-Risiko-Gefühl.

Erst im 19. und 20. Jahrhundert, so zeigen es die Quellen, erreichte der Begriff des Vertrauens die soziale, dann auch die politische Sphäre. Die mittelalterlichen Monarchen erwarteten von ihren Untertanen unverbrüchliche Treue; die politischen Führer der parlamentarischen Demokratien benötigen das volatile Vertrauen der Wähler, das ihnen jederzeit entzogen werden kann. Auch Finanzdienstleister, Sparkassen und Discounter betteln mittlerweile häufig um das Vertrauen ihrer Kunden.

Dahinter steht auch der Versuch, eigentlich extrem rationale Beziehungen wie die zu einer Bank mit etwas menschlicher Wärme zu versehen, wobei die deutsche Sprache dieses Vorhaben erleichtert. Das Englische unterscheidet klarer, dass sich das Wort Vertrauen unterschiedlich deuten lässt: "Confidence" benennt die Erwartung, dass ein System - das der Sonne oder das der Finanzen - ohne eigenes Zutun zuverlässig funktioniert.

"Trust" hingegen ist das personale Vertrauen, dass einem anderen Menschen das eigene Wohlergehen am Herzen liegt. Die Verwechslung dieser beiden Deutungen, so vermutet Historikerin Frevert, sei auch ein Grund, wieso die Menschen von der Finanzkrise so erschüttert seien: Ein zerbröselter Aktienfonds gelte nicht nur als blöder, ökonomischer Fehlschlag; er werde vielmehr als emotionaler Missbrauch durch den Banker empfunden. Vorsicht ist deshalb geboten, wenn Vermögensberater oder Politiker um das persönliche Vertrauen ihrer Kunden oder Wähler werben: Es deutet auf Risse im System.

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