Frühkindliche Entwicklung:So wirkt sich Sprache auf das Verhalten von Babys aus

Bereits Babys und Kleinkinder erkennen die Absichten anderer Menschen und kooperieren mit ihnen. Forscher streiten: Braucht es hierzu die Sprache?

Von Christopher Schrader

Elisabeth Spelke kann sich richtig freuen, wenn Babys mal etwas nicht schaffen. Das ist ziemlich ungewöhnlich für eine Forscherin in ihrem Feld: Entwicklungspsychologen wie die Harvard-Professorin haben die Welt schließlich jahrzehntelang mit anrührenden Geschichten erheitert, was Neugeborenen und Kleinkindern alles gelingt, obwohl es ihnen niemand zutraut; auch Spelke hat viele solcher staunenswerten Experimente gemacht: Babys orientieren sich in fremden Räumen, wenn sie ihre Augen noch kaum zu fokussieren vermögen; können schon mit wenigen Tagen die Mimik von Erwachsenen nachahmen; verstehen Wörter, lange bevor sie welche sprechen, und zählen Spielfiguren, die hinter Kulissen verschwinden, bevor sie sitzen können.

Säuglinge sind also geborene Experten für so vieles, und doch weisen ihre Fähigkeiten anfangs charakteristische Lücken auf. "Das Muster von Erfolg und Misserfolg enthält wertvolle Hinweise", sagt Spelke. "Es gibt womöglich angeborene Kernkompetenzen des Babys, die aber enge Grenzen haben." Und genau danach sucht Spelke zurzeit, weil sie fundamentale Fragen beantworten möchte: "Was macht den Menschen so klug? Warum entwickeln sich unsere Kinder so viel weiter als die der intelligentesten Tiere?" Teile der Antwort, so die Harvard-Forscherin, liegen auf der Hand: die Sprache und die Gabe, in sozialen Gruppen zu kooperieren. Aber was genau passiert und vor allem in welcher Reihenfolge, das ist ziemlich umstritten.

"Die Sprache kommt spät zur Party, aber dann macht sie den DJ und ändert alles."

Spelkes Kollege Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat schon vor etlichen Jahren eine Theorie vorgestellt und seither in Studien und Büchern verbreitet. "Das menschliche Erkenntnisvermögen sticht heraus wie der Rüssel des Elefanten, der Hals der Giraffe und das Rad des Pfaus", hat er mit Kollegen geschrieben. Weil aber auch andere Spezies intelligent sind, fasst der Psychologe die Gabe des Menschen genauer. "Auch Affen können viel verstehen und geistig verarbeiten", sagt Tomasello, "aber es dient dann vor allem ihren eigenen Absichten. Menschen hingegen erkennen nicht nur die Absichten anderer, sie können sie auch miteinander teilen und aufeinander abstimmen."

Dieser Wille zu Kooperation, die Fähigkeit, sich auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren und es arbeitsteilig zu erreichen, müsse in der Evolution ein entscheidender Vorteil der frühen Menschen gewesen sein, glaubt Tomasello. Heute zeige sich diese soziale Gabe schon in der Kindheit, spätestens wenn Babys mit ungefähr neun Monaten einen Entwicklungsschub machen. "Erst durch geteilte Absichten wird Sprache möglich, denn wenn ich nur meinen eigenen Vorteil suche, warum soll ich dann ein kompliziertes Kommunikationssystem mit dem anderen erschaffen?", fragt der Psychologe.

Allerdings sei Sprache für Kooperation auch keineswegs unwichtig: "Sie kommt spät zur Party, aber dann macht sie den DJ und ändert alles." Elisabeth Spelke sieht das etwas anders. "Michael Tomasello glaubt, dass Sprache eine Folge all dessen ist, was uns Menschen so toll macht. Ich glaube, sie ist die Voraussetzung", sagte sie im Sommer auf einer Konferenz in Berlin, auf der beide Psychologen ihre Ideen vortrugen. Sie gelten als die momentan wichtigsten Vertreter ihres Fachs. Trotzdem war die Atmosphäre sehr freundlich. "Wenn ich falsch liege, und jemand anders hat recht, dann hoffe ich, dass es Mike ist", sagt Spelke.

Ein Fisch kann interessanter sein als ein weiterer Dino

Frühkindliche Entwicklung: Wenn Kinder die Welt erkunden, vertrauen sie den Hinweisen der Erwachsenen. Forscher am Max-Planck-Institut in Leipzig analysieren Blicke und Gesten

Wenn Kinder die Welt erkunden, vertrauen sie den Hinweisen der Erwachsenen. Forscher am Max-Planck-Institut in Leipzig analysieren Blicke und Gesten

(Foto: Stephan Elleringmann/laif)

Ein zentrales Argument der Harvard-Forscherin ist, dass Kinder eigentlich nie ohne Sprache sind. Vor dem Umbruch im Alter von neun Monaten, wenn die meisten zum ersten Mal "Mama", "Papa" oder "Auto" sagen, gelten sie zwar als sogenannte prä-verbale Babys. Doch sie hören und verstehen schon sehr viel. Sie werden zum Beispiel mit zwei Wochen unruhig, wenn ihre Mutter die Lippen bewegt, aber eine andere Stimme erklingt. Den Akzent ihrer Familie ziehen sie anderen Sprechweisen vor.

Mit drei Monaten nutzen sie Wörter, um Kategorien zu bilden. Wenn ihnen bei jedem Bild von einem Dinosaurier der gleiche Fantasiename dazu gesagt wird - "Sieh mal, ein Toma" - erfassen sie die Gemeinsamkeiten und sind nach einer Weile von den Tieren gelangweilt. Dann ist ein Fisch für sie interessanter als ein weiterer Dino, auch wenn sie diesen speziellen noch nie gesehen hatten. Mit sechs Monaten schauen sie in die richtige Richtung, wenn jemand "Hand", "Flasche", "Apfel" oder die Namen von Kuscheltieren oder Geschwistern sagt. Und die ganze Zeit probieren sie brabbelnd Laute aus und lauschen auf die Reaktion ihrer Umgebung.

Spelke konzentriert sich darum auf diese frühe Phase der Entwicklung. Sie sucht nach Lücken im Können, wo sich insulare, angeborene Fähigkeiten erst noch vereinigen müssen. Die wissenschaftliche Literatur kennt viele solche Lücken: So können Babys sehr früh erkennen, wohin eine andere Person blickt; Menschen haben ja die im Tierreich sonst sehr ungewöhnliche weiße Augenhaut. Aber es dauert sehr lang, bis die Kinder das Signal nutzen können, um zum Beispiel ein verborgenes Spielzeug zu entdecken - weit länger, als sie brauchen, um sich allein fortbewegen zu können.

Babys haben angeborene Kernkompetenzen

Eine ähnliche Lücke legen Experimente von Spelke und einer Mitarbeiterin offen. Sie führten Kindern im Alter von acht Monaten kleine Zeichentrickfilme vor, die von orangefarbene Sternen, roten Kreisen oder gelben Dreiecken handeln, alle mit Augen als soziale Wesen ausgewiesen. Sie bilden unterschiedliche Gruppen, tanzen zusammen und hüpfen auf einer Plattform oder setzen sich auf ein Podest. Die Kinder erwarten dann, dass sich die Mitglieder einer Gruppe gleich verhalten sollten, und sind irritiert, wenn ein gelbes Dreieck etwa hin- und herrutscht anstatt zu hüpfen. Sie nehmen also an, dass Mitglieder einer Gruppe die gleichen Gewohnheiten und Vorlieben haben.

Neue Versuche zeigen nun aber, dass die Kinder es anders wahrnehmen, wenn die Figuren eine Handlung vornehmen, die die Umwelt verändert. Zum Beispiel, wenn sie beim Hüpfen oben an eine Box stoßen, die dann ihre Farbe verändert und wegrutscht. Dann wundert es die Kleinen überhaupt nicht, wenn sich die Mitglieder einer Gruppe unterschiedlich verhalten. Elisabeth Spelke interpretiert das so: "Die Kinder sehen das als Verhalten von Individuen, das auf ein Ziel gerichtet ist. Die Information über die Gruppenzugehörigkeit geht dabei verloren."

Für soziale Kooperation sollen Kinder Schachtelsätze verstehen

50 Wörter

sprechen Kinder im Durchschnitt mit 18 bis 20 Monaten. Danach wächst ihr Vokabular rasch an. Am zweiten Geburtstag können es 300, am dritten 900 und am vierten 1600 Wörter sein, die sie benutzen. Aber schon bevor sie das erste Mal "Mama" sagen, verstehen sie Begriffe für Lebensmittel oder Körperteile. Sprache beginnt für sie nicht erst mit dem eigenen Sprechen.

Das führt zu ihrer Hypothese: Babys haben angeborene Kernkompetenzen, mit denen sie Menschen entweder als instrumentell handelnde Personen sehen, die die äußere Welt verändern wollen, oder als soziale Wesen, die ihre inneren Absichten und Gefühle austauschen. "Anfangs können sie noch nicht beides gleichzeitig", sagt Spelke. "Wenn eine Aktion eher kausal oder instrumentell aussieht, blockiert es offenbar die soziale Interpretation." Die Lücke schließe sich erst über die Sprache, ist Spelke überzeugt. Allerdings lässt Spelkes Hypothese offen, wie sich die Kommunikation entwickeln konnte. Ihr fehlt die Antwort auf die Frage, wie im Lauf der Evolution aus sprachlosen Vorfahren sprechende Menschen werden konnten.

"Die These von den geteilten Absichten demystifiziert das menschliche Sprachvermögen", sagt Henrike Moll von der University of Southern California in Los Angeles. Sie hat einst als Tomasellos Doktorandin an einem programmatischen Aufsatz mitgeschrieben und hält dessen Grundthese nach wie vor für richtig. "Sprache ist nicht das einzige Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Sie wird erst möglich durch ein noch grundlegenderes Vermögen des Aufeinander-Eingehens, das bei keinem anderen Tier vorkommt."

Michael Tomasello überzeugen Spelkes Ideen über die zentrale Rolle der Sprache noch aus anderen Gründen nicht. Zum einen ist er skeptisch, ob Psychologen den Geist von Kindern im ersten Jahr ergründen können, indem sie deren Blicke analysieren. Handfestes Verhalten sei klarer zu interpretieren. Zum anderen entdeckten Kinder die vollen Möglichkeiten der Sprache erst ab dem zweiten Lebensjahr, wenn sie langsam deren reiches Repertoire lernen. Für den Leipziger Forscher ist dabei besonders wichtig, dass Sprache verschachtelte Konstruktionen enthält, wie zum Beispiel: "Er möchte, dass ich darauf achte, dass er den Hebel als Erster anfassen muss, damit wir . . ." Sprache bilde so nämlich die ineinander gebetteten und verschränkten Intentionen der Partner einer Zusammenarbeit ab und sei deswegen viel mehr als jene einfachen Zeigegesten, die auch präverbale Kinder gekonnt benutzen.

Affen haben ähnliche Kompetenzen - aber sie bleiben auf diesem Niveau stehen

Grundlegend für die geistige Entwicklung von Kindern, gerade im Kontrast zu Menschenaffen, sei die Motivation und Fähigkeit, die Absichten des anderen zu erkennen, darauf einzugehen und sein Interesse wach zu halten. So gibt es zum Beispiel anrührende Experimente mit 18 Monate alten Kindern, die mit Erwachsenen ein Spiel spielen, das darin besteht, Bauklötze durch Rohre sausen zu lassen. Wenn der große Partner plötzlich aufsteht, versucht ihn der kleine zurückzurufen oder -zuholen. "Schimpansen würden einfach mehr arbeiten, um die Aufgabe allein zu bewältigen", sagt Tomasello.

Sollen zwei Kinder zusammen im Labor eine Apparatur bedienen, damit sie für jeden eine Belohnung ausspuckt, dann erlahmt das Interesse des ersten nicht, wenn es seine Gabe vorzeitig bekommt. Und falls die Preise ungleich sind, teilen die Kinder nach der Kooperation oft. Beides komme bei Affen kaum vor, sagt Tomasello. "Wenn einer seine Belohnung schon hat, dann ist das Spiel eben vorbei." Die Affen hätten also Kernkompetenzen, um ihre eigenen Absichten umzusetzen und vielleicht konkurrierende Absichten anderer zu erkennen. Aber sie blieben sozusagen auf diesem Niveau stehen, während bei Babys die Fähigkeit erwache, Absichten mit anderen zu teilen. Und erst damit auch Sprache mit all ihren Feinheiten. "Sprache ist nicht die Basis, sondern abgeleitet. Sie beruht auf denselben kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die Säuglinge dazu bringen, mit dem Finger auf Dinge zu deuten und sie anderen Leuten zu zeigen", heißt es in dem programmatischen Aufsatz, den Tomasello mit Kollegen vor zehn Jahren geschrieben hat.

Eine ganze Reihe von Psychologen und Verhaltensforschern mögen dem Leipziger Max-Planck-Forscher da nicht folgen. Da sind zum Beispiel diejenigen, die Affen in der Wildnis studieren und sich wundern, dass der Leipziger ihnen die Fähigkeit zur Kooperation mehr oder weniger abspricht. Die Tiere jagen schließlich gemeinsam und bringen einander den Gebrauch von Werkzeugen beim Fischen nach Termiten bei. Umstritten ist aber, wie sehr das auf gemeinsamen Absichten beruht.

Kommt Sprache vor oder nach der Kooperation?

Richard Moore von der School of Mind and Brain an der Charité in Berlin wiederum findet, dass Tomasello - bei dem er als Postdoc gearbeitet hat - die Anforderungen an Sprache zu hoch anlegt. "Er nutzt philosophische Konzepte, die unter anderem die Fähigkeit fordern, Kommunikation auf der vierten Metaebene zu bilden." Solche Schachtelsätze hätten, zu Papier gebracht, vier aufeinander bezogene Verben und ziemlich viele Kommata. Es ist bei vielen Erwachsenen fraglich, ob sie das verstehen. "Wir haben keine empirischen Beweise, dass Kinder im Alter von einem Jahr, wenn sie anfangen zu sprechen, das auch nur annähernd können", sagt Moore. Sinnvolle, hilfreiche Kommunikation sei aber auch unter weniger anspruchsvollen Bedingungen möglich.

Das liefert dann vielleicht einen Ausweg aus dem Dilemma, ob Sprache nun vor oder nach der Kooperation kommt. "Vielleicht sollte man den Streit nicht ganz so hoch hängen", sagt Richard Moore. Einfache Kommunikation könnte in der Evolution die Möglichkeiten der Zusammenarbeit verbessert haben, was wiederum der klareren Verständigung diente. Wie in vielen Bereichen der Evolution, bei der Fotosynthese und dem Vogelflug, könnte eine komplexe Funktion in winzigen Schritten und unter Zweckentfremdung von Vorstufen entstanden sein, die ursprünglich ganz andere Aufgaben erfüllten. Der Widerspruch zwischen Spelke und Tomasello, die ohnehin in ganz anderen Phasen der kindlichen Entwicklung nach Antworten suchen, würde so schrumpfen.

Tomasello kann sich das im Prinzip vorstellen, sagt er, aber noch ist ihm die Idee seines ehemaligen Schülers zu vage. "Es geht doch darum, was uns als biologische Art einzigartig macht." Er scheint wenig geneigt, die grundsätzliche Debatte zugunsten von Kompromisslinien aufzugeben. Auch Elisabeth Spelke mag die Relativierung der Differenzen nicht stehen lassen. "Es geht um fundamentale Fragen der menschlichen Entwicklung. Da ist es schon wichtig, dass man sie sorgfältig formuliert und die Antworten aus guten Experimenten gewinnt. Wir haben noch eine Menge Arbeit."

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