Artenvielfalt:Auge in Auge mit der Echse

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Das jüngste Projekt von Google lädt in die schönsten Naturkundemuseen der Welt ein. Online und mit Virtual-Reality-Brillen sollen vor allem junge Menschen lernen, was Biodiversität bedeutet. Und wie es sich anfühlt, vor einem lebenden Dinosaurier zu stehen.

Von Kathrin Zinkant

Wenn der fünf Meter lange, massige Schwanz der gewaltigen Kreatur erst hoch durch die Luft und dann fauchend zu Boden saust, bleibt einem nichts anderes übrig: Man springt. Erst zur Seite, dann zurück, den Kopf eingezogen, um der Wucht des Aufpralls zu entgehen. Dabei hätte es gereicht, die Stopptaste zu drücken. Oder die Hände sinken zu lassen, welche die Virtual-Reality-Pappbrille aber weiter vor den Augen festhalten - während das größte Landtier, das je auf der Erde gelebt hat, jetzt aus schwindelerregenden neun Metern Höhe den Echsenkopf zu seinem Beobachter herunterbeugt.

Auf g.co/naturalhistory können sich Dinosaurier- und Naturfans auf eine faszinierende Reise begeben, auf einen virtueller Trip quer durch die bemerkenswertesten Ausstellungen zur Artenvielfalt und Naturgeschichte der Welt. Begonnen hat die Reise am Dienstag in einer der schönsten dieser Sammlungen. Vor dem Skelett des weltgrößten Dinosauriers Giraffatitan brancai im Berliner Naturkundemuseum hat das Cultural Institute des Datenriesen Google die nächste Etappe seines Projekts Arts & Culture vorgestellt. Nach Gemälden, Gebäuden, Bibliotheken, Streetart und den darstellenden Künsten beginnt der Technologiekonzern nun damit, die Naturhistorie zu digitalisieren.

Geht irgendwann niemand mehr ins Museum? Doch. Am Ende wollen alle das Original sehen

Weltweit sollen Menschen den Schatz der Artenvielfalt kennen und schätzen lernen und in Welten vordringen können, die es seit Millionen Jahren nicht mehr gibt oder die in fernen Ländern von der Vernichtung bedroht sind. "Es geht uns insbesondere um die nächste Generation", sagt Wieland Holfelder, der Googles Entwicklungsabteilung in München leitet. Schulklassen sollen mit virtuellen Brillen vom Klassenzimmer aus jederzeit sehen können, was ihnen sonst nur auf Ausflügen zugänglich wäre. Und der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums, Johannes Vogel, schwärmt von einem neu dimensionierten Zugang zum Wissen um die Natur "Das ist nur durch diese internationale Vernetzung der Ressourcen möglich", sagt Vogel.

Insgesamt 300 000 Fossilien aus 16 Ländern umfasst die Online-Sammlung bereits, die seit Dienstag weltweit kostenlos zur Verfügung steht. 30 virtuelle Ausstellungen gehören dazu, es gibt Videos und Hunderte interaktive Geschichten, die von Ausgrabungsexpeditionen, Evolutionsetappen und längst vergangenen Welten berichten. Eine virtuelle Realität ist bislang einigen Ausstellungen und ausgewählten Exponaten wie dem Giraffatitan vorbehalten - und der Berliner Biodiversitätswand, die 3000 Arten zeigt und jetzt mit 1,35 Milliarden Pixeln ins Netz gespeist wurde. Die Wand lässt sich nun erkunden, indem man einzelne Tiere anvisiert und sie dann in Bewegung und in ihrem natürlichen Lebensraum erblickt.

Das alles aber ist, wie Hohlfelder und Vogel sagen, erst der Anfang. Nach und nach soll in den kommenden neun Jahren mindestens die Hälfte der weltweit drei Milliarden naturhistorischer Artefakte digitalisiert werden - auf Googles Servern, versteht sich. "Die Urheberrechte verbleiben bei den Museen", versichert Holfelder. Doch neben der Sorge um die Hoheit über die Daten stellt sich noch eine andere Frage: Wer soll nun noch ins Museum gehen und sich anschauen, was er in viel aufregenderer Form bequem auf dem Sofa daheim erleben kann? "Ich sehe es an den Kindern, die hier herkommen", sagt Vogel. Die virtuellen Animationen und digitalen Storys seien eine tolle Möglichkeiten, sich auf einen Besuch im Museum vorzubereiten und das Interesse zu wecken. "Am Ende aber wollen alle das Original sehen ", sagt Vogel.

Das sollte auf absehbare Zeit auch besser so sein, denn obwohl Google die zwei großen gemeinsamen Pressekonferenzen zum Start im Berliner Naturkundemuseum und dem Londoner Natural History Museum veranstaltete, wird zumindest in Berlin vorläufig alles beim Alten bleiben, die Virtual-Reality-Pappbrillen sind dort erst einmal nicht erhältlich. Ein Verkauf wäre nicht realisierbar. Und selbst wenn: Benutzen könnte die Schachteln nicht jeder. Technische Voraussetzung sind mindestens ein Smartphone mit Vier-Zoll-Bildschirm, eine Internetverbindung und ein Betriebssystem, das kompatibel ist mit den notwendigen Apps für die Brillen und Google Arts & Culture. Deren Bedienung gilt es dann noch zu erlernen. Am besten klappt der Trip ins Dinosaurierland natürlich mit Android-Smartphones und Googles Browser Chrome.

Wenn es funktioniert, sind die virtuellen Trips ein großer Spaß, den man aber schon aus Sicherheitsgründen besser zu Hause ausprobiert. Denn beim Blick durch die VR-Brillen gerät eines völlig aus den Augen: die Realität. Und in der steht, während man vor Giraffatitan brancais herumfahrenden Schwanz zur Seite springt, womöglich ein Mensch im Weg. Oder eine Wand.

© SZ vom 14.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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