Wolfsburg:Der graue Kokon

Lesezeit: 2 min

Die Stadt Wolfsburg hat nie versucht, eine Trennlinie zwischen sich und dem Konzern zu ziehen. Volkswagen ist Identität genug.

Von Angelika Slavik, Wolfsburg

Was viele einschneidende Momente eint, ist die Stimmung am Tag danach. Selten erfährt man so viel Klarheit, so viel Ruhe wie nach dem einen, großen Crash. Es ist, als wären alle Störgeräusche ausgeblendet, die Farbsättigung reduziert und was bleibt, ist der unverstellte Blick auf das, was jetzt noch übrig ist.

In Wolfsburg ist nun so ein Tag.

Es ist der erste Montag einer neuen Ära, der Beginn einer neuen Zeitrechnung, sagen manche. Woche eins post Piëch. Eine geschlossene Wolkendecke packt die Stadt in einen grauen Kokon, auf den Straßen steht das Regenwasser in den Pfützen. Es ist ein würdiges Szenario.

Die Buslinie 267 fährt vom Hauptbahnhof zum VW-Werk, Tausende Menschen kommen so jeden Tag zu ihrem Arbeitsplatz. Jetzt sitzen nur ein paar wenige Männer darin. Schweigen. Der Bus rollt auf die berühmten vier Fabriktürme zu, die seit jeher gefühlt jeden zweiten Bericht über Volkswagen illustrieren und die, natürlich, auch das Wahrzeichen von Wolfsburg sind. Das Symbol einer Stadt, die nie versucht hat, eine Trennlinie zu ziehen zwischen sich und dem Konzern, wozu auch. "Was gut für das Unternehmen ist, ist auch gut für Wolfsburg", sagen sie hier im Rathaus. Und wenn man fragt, ob das nicht problematisch sei, zum Beispiel wenn es um Umweltvorschriften gehe oder um Verkehrspolitik oder um Anwohneranliegen; ob es denn nicht auch Situationen geben könne, in denen die Interessen der Bürger jenen des Konzerns zuwiderlaufen, dann verstehen sie hier nicht einmal die Frage, so absurd ist der Gedanke in dieser Stadt. Volkswagen ist Wolfsburg und Wolfsburg ist Volkswagen. Konzern, Stadt, Rathaus, Vorstandsetage, Betriebsrat, die Nähe ist nicht nur geografisch.

Linie 267 ächzt um die Kurve. Einer der Fahrgäste, Mitte 50 vielleicht, Schnauzer, kräftige Statur, schaut aus dem Fenster. Als er gefragt wird, was er denn denke über die Ereignisse des Wochenendes, sagt er, dass er schon "ziemlich überrascht" gewesen sei, dass das alles so gekommen sei. Immerhin "haben wir Herrn Piëch ja alles zu verdanken, das ist ja alles von ihm". Dann sagt er noch, dass "Doktor Winterkorn" aber auch ein sehr guter Mann sei und dass er schon "voll Vertrauen" sei. "Das klappt schon, die machen das. Aber schade ist es."

In ziemlich genau einem Monat werden Stadt und Konzern ihrer Verbindung ein Denkmal setzen, im wörtlichen Sinn. Das Unternehmen Volkswagen hat der Stadt Wolfsburg ein Geschenk gemacht zu deren 75-jährigem Bestehen. Es ist eine riesige Statue von einem VW-Golf, was wohl einiges sagt über das Selbstverständnis des Schenkenden. Das 75-jährige Bestehen war allerdings schon 2013, 1938 legten die Nazis den Grundstein für die Volkswagenwerke. Aber die Stadt tat sich schwer, einen geeigneten Standort zu finden für den Denkmal-Golf, was VW verärgert haben soll. Zwei Jahre dauerte diese Posse. Es war, so hört man, die einzige Verstimmung zwischen Stadt und Konzern, an die man sich hier erinnern kann. Das Scharmützel ist besonders kurios, wenn man bedenkt, dass ohnehin die ganze Stadt voll ist mit VW-Huldigungen. Die Fabriktürme prägen das Bild der Stadt nach außen, die Autostadt ist die wahrscheinlich größte Freizeitattraktion Wolfsburgs. Die Autostadt ist der Ort, an dem VW-Kunden ihre Neuwagen abholen, aber es ist auch ein Platz, an dem es im Sommer modernen Tanz zu sehen gibt und Kinder Verkehrsregeln lernen können. Man kann einen zerschnittenen Porsche-Motor begutachten und sich in einem Video von der ARD-Börsenfrau Anja Kohl erklären lassen, wie der Aktienmarkt funktioniert. VW ist hier nicht nur der größte Arbeitgeber, er investiert auch in Kultur und neuen Wohnraum und was er dafür bekommt, ist vorbehaltlose Liebe und keine Kritik. Aber wird der Konzern in Zukunft ein anderer sein? Und wenn ja, verändert das die Stadt? Die Türen öffnen sich, die Männer gehen zum Werkstor. Die Arbeit wartet, das ändert sich auch nicht an Tag eins einer neuen Zeitrechnung.

© SZ vom 28.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: