US-Wirtschaft:Eine ganz normale Misere

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Als der Ölpreis stieg und stieg, freute sich die Branche, die Gewinne stiegen. Nun ist der Boom vorbei - und die Frage ist, woher das amerikanische Wachstum künftig kommt. (Foto: Spencer Platt/AFP)

In Talkshows ist die Furcht vor dem nächsten Abschwung nicht weit. Volkswirte teilen die Sorgen nicht und warnen doch vor geringer Produktivität und Ungleichheit.

Von C. Hulverscheidt, New York

Wenn das Maß an Geraune ein Gradmesser für den Zustand einer Volkswirtschaft wäre, dann sähe es übel aus für die USA: Ob Talkshow, Podiumsdiskussion oder Parlamentsanhörung - wo auch immer dieser Tage Konjunkturprognosen abgegeben werden, ist das R-Wort nicht weit. Manche Ökonomen debattieren schon nicht mehr, ob dem Land die erste Rezession seit sieben Jahren droht, sondern nur noch, wie tief es bereits im Sumpf steckt.

Am Mittwoch nun hat sich der Internationale Währungsfonds (IWF) der Frage angenommen und sie in seinem jährlichen Bericht zur Lage in den USA auf bemerkenswerte Weise beantwortet: Sucht man in der Analyse das Wort Rezession, so wird man exakt einmal fündig - in einem Halbsatz, der an die "Große Rezession" von 2009 erinnert. Mit anderen Worten: Ein Konjunktureinbruch ist nach Auffassung des Fonds nicht in Sicht, oder, wie IWF-Chefin Christine Lagarde es ausdrückte: "Die Wirtschaft ist in einem guten Zustand." Für dieses Jahr erwartet der Fonds ein US-Wachstum von 2,2 Prozent, für 2017 von 2,5 Prozent.

"Wir stehen mitnichten am Beginn einer Rezession."

In einer Umfrage des Wall Street Journal hatten Volkswirte die Wahrscheinlichkeit eines konjunkturellen Einbruchs im nächsten Jahr jüngst im Schnitt auf 21 Prozent beziffert. Allerdings gingen die Vorhersagen so weit auseinander, dass sie der Politik keinerlei Hilfestellung bieten: Joshua Shapiro, der USA-Chefökonom des Beratungshauses MFR, etwa warnte, das Rezessionsrisiko betrage 50 Prozent. Sein Kollege Torsten Sløk, oberster Weltwirtschaftsdeuter der Deutschen Bank in New York, hält die Schwarzmalerei dagegen für völlig überzogen: "Wir stehen mitnichten am Beginn einer Rezession", so der Fachmann.

Das Problem ist, dass beide Seiten gute Gründe für ihre Haltung anführen können. Die Pessimisten verweisen auf den zuletzt geringen Beschäftigungszuwachs, sinkende Autoabsatzzahlen, die schwache Produktivitätsentwicklung und schrumpfende Unternehmensgewinne. Die Gegenseite nennt die niedrige Arbeitslosenquote, den zuletzt spürbaren Anstieg der Löhne und die Tatsache, dass sowohl die Firmengewinne als auch die Autoverkäufe zuvor ungewöhnlich hoch gewesen seien. Glaubt man der Landeszentralbank von Atlanta, dann haben die Optimisten die besseren Argumente auf ihrer Seite: Nach Schätzung der Atlanta Fed ist die US-Wirtschaft im zu Ende gehenden zweiten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um 2,8 Prozent gewachsen.

Auch Amerikas oberste Währungshüterin Janet Yellen zählt zum eher zuversichtlichen Lager, räumte bei ihren turnusmäßigen Anhörungen vor beiden Kammern des Kongresses in dieser Woche aber ein, dass alles auch ganz anders kommen könnte. Insbesondere die Befürchtung von Ex-Finanzminister Lawrence Summers, das Produktivitätsplus könne für lange Zeit niedrig bleiben und das Wirtschaftswachstum dauerhaft reduzieren, ist aus Yellens Sicht nicht völlig von der Hand zu weisen. Auch müsse man klären, ob der zuletzt sehr langsame Beschäftigungszuwachs ein Anzeichen für ein größeres Problem oder nur eine vorübergehende Schwäche sei. Umgekehrt, so die Fed-Chefin, dürfe man "nicht wegen ein, zwei Berichten überreagieren".

Trotz seiner optimistischen Prognose ist auch der IWF in seinem Bericht weit davon entfernt, der US-Wirtschaftspolitik eine Unbedenklichkeitserklärung auszustellen. Allerdings hält der Fonds weniger die aktuellen als vielmehr die langfristigen, strukturellen Herausforderungen für entscheidend. Die größten Probleme der US-Volkswirtschaft sind demnach die Alterung der Gesellschaft, das im Schnitt von 1,7 auf 0,4 Prozent gesunkene jährliche Produktivitätswachstum, die wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie die zunehmende Armut. Der Analyse zufolge sind 15 Prozent aller Amerikaner - das sind 47 Millionen Menschen - arm, besonders betroffen sind alleinerziehende Mütter, Kinder und Behinderte. Da gleichzeitig Familien aus der unteren Mittel- in die Geringverdienerklasse abrutschten, gehe den USA ein erhebliches Maß an Konsumnachfrage verloren, was wiederum die gesamte Wirtschaftsentwicklung belaste.

Um die Probleme anzugehen, schlägt der Fonds ein ganzes Bündel an Maßnahmen vor, die weit über frühere Standardforderungen nach Haushaltskonsolidierung und Marktliberalisierung hinausgehen: einen höheren Mindestlohn, Steuererleichterungen für Gering- und Durchschnittsverdiener, eine bessere soziale Absicherung, bezahlten Mutterschutz, bezahlte Eltern- und Pflegezeit, mehr und eine besser gesteuerte Immigration, zusätzliche Ausgaben zur Instandsetzung der Infrastruktur und ein besseres Bildungssystem. Bezahlt werden soll all das durch Umschichtungen im Etat oder mit Hilfe "neuer Einnahmen" - was nichts anderes bedeutete als Steuererhöhungen für Spitzenverdiener.

Den Begriff "Brexit" übrigens sucht man in dem Länderbericht vergebens. Lagarde sagte auf Nachfrage, ein Austritt Großbritanniens aus der EU könne einen Kursanstieg des Dollars und Turbulenzen auch an den US-Aktienmärkten auslösen. Der IWF gehe aber davon aus, dass die amerikanische Wirtschaft selbst in diesem Fall nicht in die Rezession abrutschen würde.

© SZ vom 23.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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