Start-ups:Der Brückenbauer

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Makoto Takeda holt japanische Software-Spezialisten nach Berlin. Die Talente aus Fernost genießen die Freiheit im Ausland, die deutschen Start-ups profitieren von ihrem Können.

Von Lena Schnabl, Berlin

Makoto Takeda, ein Dolmetscher aus Tokio, übersetzt schon lange nicht mehr nur Sprachen. Er vermittelt zwischen Firmenkulturen. Er verknüpft die alteingesessene mit der jungen Wirtschaft und zugleich Deutschland mit Japan. Er läuft durch sein Büro in Berlin-Mitte, vorbei an zwei Tischtennisspielern mit Bart und Holzfällerhemd. Takeda, rasierter Kopf, Brille mit dicker Plexiglasumrandung, studierte Germanistik an der Tokio-Universität und kam als Doktorand nach Berlin. Nach der Promotion begann er zu dolmetschen. Seine Kunden waren japanische Großunternehmen, die in Deutschland Geschäfte machen wollten. Sich selbst einbringen konnte Takeda beim Dolmetschen nicht. "Meine Meinung musste ich zurückhalten", sagt er, "Das ließ mich unbefriedigt zurück."

2013 gründete er daher sein eigenes Unternehmen - Bistream. Das klingt nach Bewegung und passt deswegen zu Takeda, der selbst ständig in Aktion zu sein scheint. Auch bei Bistream geht es wie beim Dolmetschen darum, Menschen zu verbinden. Takeda vermittelt Angestellte japanischer Großunternehmen als Trainees an Berliner Start-ups. Denn in seiner Zeit als Dolmetscher hat er gelernt, dass die einen haben, was den anderen fehlt: gut ausgebildetes Personal, Geld, Eigenverantwortung und Internationalität. Für sechs Monate vermittelt Takeda den jungen Firmen Top-Talente, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Und die Japaner erhalten ihrerseits Freiraum, in dem sie sich ausprobieren und in dem sie wachsen können.

Mutsumi Ichiharas Schuhabsätze klackern durch den Gang eines anderen Büros in Berlin-Mitte. Seit Mai arbeitet die Software-Entwicklerin bei Lifelife, einem Start-up, das einen Makler-Service anbietet. "Es ist hier wie im Paradies", sagt die 27-Jährige. Sie ist die vierte Entwicklerin, die Bistream nach Berlin geholt hat. In Tokio stand Ichihara immer um sieben Uhr auf, sie wollte vor neun im Büro sein, weil es um diese Uhrzeit noch ruhig war und sie gut arbeiten konnte, gegen 21 Uhr, manchmal auch erst um drei Uhr nachts ging sie wieder nach Hause. Sie erstellte Excel-Tabellen und bastelte an Powerpoint-Folien für Konferenzen. Zwar werden in Japan Software-Ingenieure gesucht, doch deren Tätigkeiten sind in der Regel andere als hier in Berlin. In Tokio arbeitete die 27-Jährige meist nur ihre Aufgaben ab, erst in der knapp bemessenen Freizeit blühte sie auf. Da entwickelte sie Codes. Das heißt, ihr eigentlicher Beruf wurde so zu ihrem Hobby.

Traditionell findet die Aus- und Weiterbildung in den japanischen Firmen selbst statt. Direkt nach der Universität eingestellt, rotieren die Beschäftigten durch die Abteilungen und lernen dort alles, was sie für ihren Job brauchen, egal, ob sie vorher Marketing oder Maschinenbau studiert haben. Firmeninterne Karrieren mit lebenslanger Beschäftigung und Bezahlung nach dem Senioritäts- und nicht nach dem Leistungsprinzip sind das Ideal.

"In Japan vermeidet man, Spezialisten auszubilden", sagt Franz Waldenberger, Professor für japanische Wirtschaft und Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio. Die Firmen wollen Generalisten, die sie flexibel einsetzen können. "Ein Spezialist könnte auch bei einem anderen Unternehmen arbeiten." Hochausgebildete Software-Entwickler, Fähigkeiten wie Mutsumi Ichihara sie hat, sind jedoch weltweit gefragt. Deswegen sind sie zugleich Chance und Risiko für ihre Arbeitgeber. Will man sie halten, muss man ihnen etwas bieten.

Ichiharas Projektleiter in Japan befand vor zwei Jahren, dass die jungen Entwickler in seiner Firma Recruit Technologies zu wenig gefördert würden. "Die brauchen Herausforderungen", sagt er. Zwar ist das Unternehmen darauf spezialisiert, neue Technologien zu entwickeln, doch zum Herumprobieren gelten sie in Japan als zu groß. Dort sucht man perfekt ausgereifte Ideen, die sofort funktionieren.

"Ich wollte etwas über Computer lernen, musste aber erkennen, dass ich das nicht konnte."

Der von Google mitfinanzierte Start-up-Campus Factory. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Wenn Ichihara in Tokio eine neue Idee hatte, egal wie nichtig, musste sie viele Leute überzeugen, eine Abteilung nach der anderen. Irgendwo auf dem Weg versandete der Einfall meistens. "Es war frustrierend", sagt sie. "Ich wollte etwas über Computer lernen, stattdessen habe ich lernen müssen, dass ich das in dieser Umgebung nicht kann." Auch Wirtschaftsprofessor Waldenberger sagt, japanischen Firmen fehle Offenheit. "Wenn Ideen in der Hierarchie nach oben transportiert werden, werden die ganzen Dinge, die besonders und speziell sind, wegdiskutiert." Heraus komme nicht selten ein Standardprodukt. Mögliche Auswege für die hochqualifizierten und hoch motivierten Arbeitskräfte: Auf Originalität verzichten oder die Firma verlassen. Um sie dauerhaft zu halten und um ihre Qualitäten besser zu nutzen, bräuchte es mehr Unabhängigkeit, Vielseitigkeit und gleichzeitig mehr Spezialisierung.

Ichiharas Arbeitgeber erkannte die Defizite. Was die Firma intern nicht leisten kann, lagert sie aus. So begann die Kooperation mit Bistream in Berlin. Der Raum für Neues, für Spinnereien und persönliche Entwicklung sollte außerhalb der Firma entstehen. Eine Stadt wie Berlin, ein Schmelztiegel, in dem Start-up-Leute daran gewöhnt sind, dass verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, scheint dafür ideal zu sein.

Berlin hat sich zu einem wichtigen Start-up-Zentrum in Europa entwickelt. Laut dem Global Start-up Ecosystem Report wuchs 2014 kein Standort weltweit so schnell wie Berlin. Im Vorjahr noch auf Platz 15, schaffte es Berlin dieses Jahr auf den 9. Platz. Damit liegen im erweiterten europäischen Raum nur Tel Aviv und London vor der deutschen Hauptstadt. Sie beherbergt laut der Studie zwischen 1800 und 3000 Technologie-Start-ups, die in den nächsten fünf Jahren 40 000 neue Jobs schaffen könnten.

Die Börsengänge von Rocket Internet und Zalando oder der Verkauf von 6Wunderkinder zeigen, dass sich in Berlin nicht nur gründen, sondern mittlerweile auch Geld machen lässt. Und Orte wie die "Factory", ein von Google mitfinanzierter Start-up-Campus zeigen, dass auch die Großen das Potenzial der Stadt ernst nehmen.

"Dass sich Berlin so gut entwickelt hat, ist für mich wie ein Weihnachtsgeschenk", sagt Takeda, der Brückenbauer von Bistream. Als er im Jahr 2000 nach Berlin kam, war das noch nicht so. Die Investitionen in die IT-Branche waren insgesamt zurückgegangen und die Industriestandorte ohnehin anderswo in Deutschland, etwa in München oder Stuttgart. "Eine Eiszeit", sagt er, "aber die Leute lieben Berlin." Die Stadt mit dem vom ehemaligen Bürgermeister Klaus Wowereit propagierten Image "arm, aber sexy" verspricht seit jeher Freiräume und Möglichkeiten. Und wurde so selbst zu einer Art Start-up, einem Spielplatz für Gründer. Und seitdem Takeda seine Brücken baut auch zu einem Anziehungspunkt für Japaner wie Ichihara.

"Wenn ich unter der Dusche einen Einfall habe, kann ich ihn sofort ausprobieren."

Statt an Excel-Tabellen und Powerpoint-Folien, bastelt sie in Berlin an der Front-End-Entwicklung. Sie ist verantwortlich für die Webseite, die die Kunden sehen. Ihr Chef, ein Finne, der vor fünf Jahren nach Berlin kam und zunächst Möbel designte, gründete das Immobilien-Start-up vor eineinhalb Jahren. Die Firma will "Vermietern helfen, coole Mieter zu finden", sagt er. Ichihara kann ihre Arbeitszeit nun frei einteilen. Keiner zählt die Arbeitsstunden. Sie hat 24 Stunden pro Tag Zugriff auf den Server. Sie muss nicht immer im Büro sein. "Wenn ich unter der Dusche einen Einfall habe, kann ich ihn direkt ausprobieren", sagt sie. In Japan musste sie warten, bis sie das nächste Mal im Büro war und bis sie Kollegen und Vorgesetzte überzeugt hatte.

Ohne Bistream hätte sich das Start-up die Senior-Entwicklerin nicht leisten können. Ichiharas Firma in Japan zahlt das Gehalt weiter, das Berliner Start-up lediglich eine Vermittlungsgebühr an Bistream. Seitdem Ichihara hier codiert, merkt der Nutzer nicht mehr, wenn der Server gleichzeitig ein Upgrade durchläuft. Ichihara kann sich jetzt während der Arbeitszeit beweisen und weiterentwickeln. Schwierigkeiten aufgrund der japanischen Kultur konnte ihr Chef bislang nicht feststellen. Lifelife ist wie viele andere Start-ups sehr international, die Kommunikation läuft auf Englisch.

In Japan ist das anders. Selbst in japanischen Start-ups wird von Ausländern erwartet, dass sie fließend Japanisch sprechen. "Man braucht verschiedene Perspektiven, gerade wenn es darum geht neue Dinge zu entwickeln oder andere Märkte zu erschließen", sagt Waldenberger vom Institut für Japanstudien. Das geht nur, wenn auch Menschen, die aus der Norm fallen gleichwertig behandelt werden. "Wenn ein System darauf ausgerichtet ist, dass Mitarbeiter ein Leben lang im Unternehmen bleiben, landen jene, die zwischendurch rausgehen schnell auf dem Abstellgleis." Das Problem betrifft Ausländer ebenso wie Frauen oder ältere Menschen. Wenn Japan global erfolgreich sein möchte, müsste es sich öffnen. Allein aufgrund der zunehmenden Überalterung müssten mehr Freiräume zugelassen werden.

Die Entwicklerin Ichihara sei immer offen gewesen. "Ich möchte dich gerne korrigieren", sagt sie, als ihr Berliner Chef sie wegen der kurzen Antwortzeit bei Nachfragen am Wochenende lobt. "Ich arbeite nicht am Wochenende. Das kann ich so nicht stehen lassen." Es sei eine Eigenschaft von Entwicklern, sich auch in der Freizeit mit Codes befassen zu wollen. Auch in Japan sprach Ichihara Probleme direkt an, merkte aber, dass sie das von den meisten Kollegen unterschied. "In Europa ist der Satz 'Du bist etwas Besonderes' ein Kompliment. In Japan ist Anderssein negativ besetzt", sagt sie. Im Start-up kann sie ihre Ansichten nun mit jedem teilen, egal ob Vorgesetzter oder Vertriebler. "Ich bin hier sehr frei. Sicher bin ich dadurch kreativer geworden."

"Neues kann nur entstehen, wenn dass Scheitern nicht geächtet wird."

Gerade junge Leute sollten sich ausprobieren können, findet Takeda, der Gründer von Bistream. So hatte er die Idee, nicht nur Fertigausgebildete, sondern auch Studenten für einen Perspektivwechsel nach Berlin zu holen. Bei einem ersten Versuch unterstützte eine japanische Studentin die Kickstarter-Kampagne eines Hardware-Start-ups. Der japanische Markt ist nicht nur aufgrund seiner hochqualifizierten Mitarbeiter interessant für deutsche Startups, sondern auch wegen seiner Technikaffinität. Doch wer diesen Markt erschließen möchte, muss die Menschen dort erreichen können. Die japanische Studentin half dem Start-up dabei. "Wir probieren das und wenn es nicht klappt, ist es auch egal", sagt ihr Chef. Neues kann nur entstehen, wenn Scheitern nicht geächtet, sondern als eine Möglichkeit von vielen betrachtet wird. Und als Chance. Nicht zuletzt ist es das Anpacken, das Takedas Japaner in Berlin lernen sollen.

Die Regel sind Auslandsaufenthalte bisher nicht. Viele scheuen das Risiko. So ist es an den jüngeren Unternehmen, das System zu lockern. Das Projekt von Bistream verbindet die Sicherheit der traditionellen mit der Freiheit der jungen Wirtschaft. Ein bisschen spielen auf dem großen Start-up-Spielplatz Berlin. Und wenn Leute wie Ichihara nach ihrer Rückkehr in Japan Karriere machen, könnte das vielleicht ein Trend werden.

© SZ vom 30.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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