Nahaufnahme:So wenig Schuh wie möglich

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Anna Yona produziert faire Minimal­schuhe: erst nur für Kinder, nun auch für Erwachsene.

Von Vivien Timmler, München

Ohne ihre Kinder hätte es die Firma wohl nie gegeben. Doch Lavie, Nevó und Re'em weigerten sich nach dem Umzug der Familie von Israel nach Deutschland einfach, festes Schuhwerk zu tragen. Kaum hatten Anna Yona oder ihr Mann ihnen Schuhe angezogen, hatten die Kleinen sie schon wieder von den Füßen gestreift. In Haifa, einem Küstenort anderthalb Stunden von der israelischen Hauptstadt Tel Aviv entfernt, hatten sie schließlich auch den ganzen Tag barfuß laufen dürfen.

Zurück in Deutschland musste das Paar sich etwas einfallen lassen. Barfuß zu laufen, war für die Familie zu einem Stück Lebensgefühl geworden, außerdem war Anna Yona überzeugt, das sei das Gesündeste für ihre Kinder. Auf dicken Sohlen, die jede Unebenheit des Bodens ausgleichen und die natürliche Fußstellung verändern, wollte sie die Kleinen nicht laufen lassen. Also beschloss sie, einen eigenen Kinderschuh zu konzipieren: mit genug Platz für die Zehen, aus fair gehandelten Naturstoffen und vor allem ohne Stützfunktion. "Wir hatten absolut keine Ahnung von Schuhen", sagt Yona, die mit ihrem Mann früher ein Fitnessstudio betrieben hatte. "Was es im Fachhandel zu kaufen gab, entsprach einfach nicht unseren Vorstellungen."

Also machte sich das Paar kundig, schließlich ging es ja um ihr Ein und Alles, barfuß laufen.

Inspiriert von dem Buch "Born to run", das sich mit schmerzfreiem Laufen auseinandersetzt, tüftelte Yona an einem "Minimalschuh": So viel Schuh wie nötig, so wenig wie möglich - aber weder Zehen- noch klassischer Barfußschuh. Experten, die an ihre Idee glaubten, habe sie anfangs kaum gefunden. "Es ist zwar breiter Konsens, dass barfuß laufen gesund ist, aber kein Orthopäde wollte uns unterstützen." Doch Yona blieb hartnäckig. Zusammen mit einem Sohlenbauer entstand schließlich der erste Wildling-Prototyp, mit dem sich das Paar auf den Weg nach Portugal machte, um einen Hersteller zu finden. Finanziert wurde das Produkt über zwei Crowdfunding-Kampagnen, es kamen knapp 300 000 Euro zusammen.

Der erste Minimalschuh kam Anfang 2016 auf den Markt - und wurde ihr "regelrecht aus der Hand gerissen", berichtet Anna Yona. Bis heute vertreibt sie den Schuh nur direkt über ihre Internetseite. An den konventionellen Schuhfachhandel müsse sie sich mit einem solchen Produkt gar nicht erst wenden, glaubt sie. Und das scheint auch gar nicht nötig zu sein: Im vergangenen Jahr verkaufte die Firma etwa 20 000 Paar Schuhe, und allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres wurden schon 17 000 Paar verschickt.

Der Anstieg bei den Stückzahlen ist auch darauf zurückzuführen, dass es die ursprünglich als Kinderschuhe gedachten Treter mittlerweile auch für Erwachsene gibt - der deutlich einfachere, da weniger saisonabhängige Markt. Mittlerweile sei das Produkt zum Familienschuh geworden: Regelmäßig erreichen Yona über die Social-Media-Kanäle der Firma Fotos von Familien, auf denen sowohl Eltern als auch Kinder "Wildlinge" tragen. Das aktuelle Modell der Firma ist nicht nur fair und vegan, sondern zum ersten Mal zu 70 Prozent aus Papier. Die Fasern dafür werden in Japan hergestellt und so lange gezwirbelt, bis man das Papier verweben kann. "Bei den ersten Tests ist das Material auseinandergerissen", sagt Anna Yona, "Papier ist nun mal kaum elastisch." Mittlerweile gehöre der Tanuki, der wie alle Modelle einen Tiernamen trägt, zu den Bestsellern. Zwar bekommt man darin trotz Wachsbeschichtung schnell nasse Füße, der Schuh trocknet aber besser als die Modelle Schwan, Blaumeise, Otter. Und wer nicht aufpasst und seine Kinder einkaufen lässt, der hat vielleicht bald einen kleinen Zoo zu Hause.

© SZ vom 03.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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