Sozialpolitik:Von der Leyen erfindet ihr Hartz V

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Renovierung der Grundsicherung: Hartz IV wird an Löhne und Preise gekoppelt, es gibt schnellere Sanktionen und neue Regelsätze für Kinder. Doch eine wichtige Frage ist noch offen. Die wichtigsten Änderungen im Überblick.

Thomas Öchsner, Berlin

Das lange Warten hat ein Ende: Vor sieben Monaten verlangte das Bundesverfassungsgericht, die Leistungen für Hartz-IV-Empfänger neu zu berechnen und die Ausgaben für Bildung bei hilfsbedürftigen Kindern stärker zu berücksichtigen. Jetzt hat Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) den Gesetzesentwurf für die Reform der Reform vorgelegt. Wie viel Geld mehr es für die fünf Millionen erwachsenen Hilfsbedürftigen und deren 1,7 Millionen Kinder gibt, steht aber noch nicht fest. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Das Bundesverfassungsgericht hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen angewiesen, die ALG-II-Regelsätze für Kinder neu zu berechnen. (Foto: dapd)

Auf welcher Grundlage werden die Hartz-IV-Sätze berechnet?

Haushaltsbücher wie zu Omas Zeiten bilden die Basis für die Berechnung der Regelleistung. Etwa 60.000 Haushalte führen die Bücher und halten drei Monate lang fest, wofür sie ihr Geld ausgeben. 240 verschiedene Felder sind dafür vorgesehen, vom Waschmittel bis zu Telefongebühren. Diese Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) erhebt das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre. Die letzte EVS war 2008. Die Auswertung des Datenmaterials zieht sich jedoch hin. Erst Anfang nächster Woche dürfte endgültig feststehen, wie hoch die neue Grundsicherung ausfällt. Derzeit beläuft sie sich noch auf 359 Euro monatlich.

Wie bei der vorletzten EVS, im Jahr 2003, orientiert sich die Höhe des Arbeitslosengelds II (Hartz IV) nicht am Ausgabeverhalten aller Haushalte, sondern an dem des unteren Fünftels auf der Einkommensskala. Diesmal wird aber ein deutlich größerer Teil aus dieser Gruppe herausgenommen. Dazu zählen vor allem die Hartz-IV-Empfänger. Deren Zahl ist deutlich höher als die der Sozialhilfebezieher, die die Statistiker im Jahr 2003 herausrechneten. Außerdem werden bei der Stichprobe neue Posten berücksichtigt, so zum Beispiel die Praxisgebühr oder die Gebühren für einen Internetanschluss. Andere Ausgaben fallen wie schon bisher unter den Tisch, so etwa die für Drogen und Glücksspiele. Entscheidend dabei ist: Die Verfassungsrichter haben Spielraum für die Berechnung des Hartz-IV-Satzes gelassen. Jeder Schritt muss aber schlüssig und empirisch belegt sein - sonst drohen neue Verfassungsklagen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Arbeitsministerin angewiesen, die ALG-II-Regelsätze für Kinder neu zu berechnen. (Foto: AP)

Was sie bekommen, wird eigenständig errechnet und nicht mehr von der Leistung für die Erwachsenen prozentual abgeleitet. Die Höhe steht noch nicht fest. Es gilt aber als wahrscheinlich, dass für die Kinder mehr herausspringen wird als die derzeit fälligen 215 Euro (bis 6 Jahre) und 287 Euro (ab 14 Jahren). Auch hier gilt die Maßgabe des Verfassungsgerichts: Der Gesetzgeber darf die Ausgaben der Kinder nicht ins Blaue hinein schätzen und so willkürlich Leistungen festlegen.

Das Arbeitslosengeld II wie bisher an die Entwicklung der gesetzlichen Rente zu koppeln, hat das Bundesverfassungsgericht untersagt. Der Grund: Bei der Anpassung der Altersgelder ist der demografische Faktor, der das Verhältnis von Rentnern und Beitragszahlern widerspiegelt, mitentscheidend. Bei der Anpassung der Hartz-IV-Sätze darf dies aber keine Rolle spielen. Ob die Regelsätze steigen werden, soll nach dem Willen des Arbeitsministeriums deshalb in den nächsten Jahren zu 70 Prozent von der Entwicklung der Preise und zu 30 Prozent von der Lohnentwicklung abhängen.

Spätestens 2014 soll dann eine kleinere jährliche Ausgaben- und Verbrauchsstichprobe maßgeblich sein, die sogenannte laufende Wirtschaftsrechnung. Dieses Verfahren ist politisch nicht ohne Brisanz: Es könnte passieren, dass die Bezüge der Hartz-IV-Empfänger stärker steigen als die durchschnittlichen Löhne. Umgekehrt könnten die Hartz-IV-Sätze auch sinken, wenn Löhne und Preise fallen. Dies gilt jedoch als extrem unwahrscheinlich.

Die etwa 1,8 Millionen Kinder und Jugendlichen in Hartz-IV-Familien haben vom nächsten Jahr Anspruch auf zusätzliche Leistungen. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht verlangt. Die Jobcenter, die die Hilfsbedürftigen betreuen, sollen deshalb Kosten für Nachhilfeunterricht und auch eintägige Schulausflüge übernehmen. Bieten Kindergärten oder Schule ein Mittagessen an, gibt der Bund dafür einen Zuschuss, wobei ein Eigenanteil von einem Euro bleiben soll. Auch für Aktivitäten in der Freizeit, etwa in einem Sportverein oder in einer Musikschule, gibt es Hilfe vom Staat.

Sicher ist: Das Geld wird überwiegend als Sach- und Dienstleistung erbracht und nicht auf das Konto der Eltern überwiesen. Nur das Schulstarterpaket von 100 Euro pro Jahr wird so wie bisher in bar ausbezahlt. Unklar ist noch, wie abgerechnet wird, ob per Gutschein oder mit Formularen. Der Zahlungsweg wird im Gesetz nicht vorgegeben. Von der Leyen bemüht sich derzeit sehr, mit Ländern und Kommunen gemeinsame Lösungen zu finden. Die von ihr favorisierte elektronische Bildungskarte, die vor allem in der CSU auf Kritik stößt, dürfte so schnell nicht kommen. Bislang plant die Ministerin, die Chipkarte in Modellregionen von Mitte 2011 an einzuführen.

Die Kommunen dürfen künftig Grenzwerte und Pauschalen für regional angemessene Wohn- und Heizkosten festsetzen. Als Norm könnte dabei der örtliche Mietspiegel dienen. Das Gesetz legt auch dar, wann die Miete direkt an den Vermieter (und nicht an den Hilfsbedürftigen) überwiesen werden darf.

Die Sozialgerichte haben immer wieder beanstandet, dass Sanktionen viel zu lange nach Pflichtverletzungen von Langzeitarbeitslosen erfolgen. Künftig sind Strafen innerhalb von drei Monaten auszusprechen, nachdem das Jobcenter ein Versäumnis festgestellt hat.

Am 20. Oktober soll das Bundeskabinett die neuen Regeln verabschieden. Da das Gesetz zustimmungspflichtig ist, muss sich von der Leyen mit den Ländern einigen. Dafür ist Zeit bis zum 17. Dezember, der letzten Sitzung des Bundesrats in diesem Jahr. Gelingt dies nicht, sind die neuen Regelsätze von 2011 an gültig. Die restlichen Neuregelungen könnten dann im Laufe des kommenden Jahres rückwirkend in Kraft treten.

© SZ vom 21.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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