Plädoyer für den Zug:Mit der Bahn zum Bonustrack des Lebens

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Schmutzt kaum, ist leise und, verdammt noch mal, ist beeindruckend pünktlich: An der Bahn kann man ja vieles kritisieren, aber sie ist neben dem Fahrrad das beste Verkehrsmittel, das je erfunden wurde. Was regen sich alle nur auf über 15 Minuten Bahnverspätung? Und warum nehmen dieselben Leute jede Autobahnverstopfung klaglos hin?

Alex Rühle

85 bis 95 Prozent, das sind Werte, wie man sie sonst nur aus Wahlergebnissen in diktatorischen Ländern kennt, mit dem Unterschied, dass es da immer erfundene Zahlen sind. 85 Prozent aller Züge innerhalb Deutschlands kommen weniger als fünf Minuten zu spät. Von den restlichen 15 Prozent erreichen die meisten immer noch innerhalb einer Viertelstunde ihren "Zielbahnhof", wie das in den Durchsagen der Schaffner oft heißt. Und die Zahlen stimmen vermutlich - im Gegensatz zu den Wahlergebnissen der Diktatoren.

Nun kann man an der Bahn ja vieles kritisieren. Den lausigen Kaffee. Oder mobil, dieses Werbeheftchen, das auf jedem Platz ausliegt und in dem dann Leute wie Veronica Ferres als nachdenkliche Künstler porträtiert werden. Insgesamt aber ist die Bahn neben dem Fahrrad das beste Verkehrsmittel, das je erfunden wurde. Schmutzt kaum, ist leise und, verdammt noch mal, ist beeindruckend pünktlich. Wir reden hier ja nicht über das Schienennetz von Lummerland, die Züge der Bahn fahren 900 Kilometer kreuz und quer durch diese unübersichtliche Republik, und wenn sich einer davon wirklich mal verspäten sollte, wird sofort ein Haufen Geld zurückgezahlt.

Natürlich, wer spätabends den letzten Anschlusszug verpasst und dann im Nieselregen dazu gezwungen wird, eine Unterkunft in Stuttgart zu suchen, hat alles Recht der Welt, sich zu beschweren, es gibt nun mal Städte, die sind derart trostlos, dass man sein Haupt dort nicht mal für eine Nacht betten will.

Der verärgerte Zwangsstuttgarter schläft ein mit dem Gedanken, dass er doch unbedingt das Auto hätte nehmen sollen. Wir wollen mit diesem übermüdeten Menschen jetzt keine Diskussion anfangen, erst musste er seinen Rollkoffer durch Stuttgarts Pfützen ziehen, dann seiner Frau am Handy erklären, warum er nicht heimkommt und zuletzt in der Hotelzimmereinsamkeit rumhocken, soll er doch schlafen.

60 Stunden Stau pro Jahr

Hier aber, in den taghellen Spalten dieses Artikels, sei der Einwand erlaubt: Was regen sich alle nur auf über 15 Minuten Bahnverspätung? Und warum nehmen die selben Leute jede Autobahnverstopfung klaglos hin? Das hat natürlich auch mit dem Versprechen zu tun, das die Bahn durch ihre Fahrpläne in die Zukunft hinein gibt.

Jeder Zug fährt durch gestundete Zeit, während ein Auto einfach nur in den Tag hineinbraust: Kein Autofahrer wird sagen, so, Kinder wir sind um 14.02 Uhr in München los, also kommen wir um 19.32 in Hamburg an. Die Bahn muss das aus guten Gründen tun. Der Bahnfahrer, der um 19.40 immer noch durch die Vorstädte Hamburgs gondelt, hämmert dann vor dem Schaffner mit seinem Zeigefinger habichtgleich auf dieser Zahl herum: "Hier steht's: 19.32. Wir sind acht Minuten zu spät!" Wohingegen der Autofahrer, der noch um halb zehn im Stau steckt, nur denkt: "Tja, dauert eben."

Angeblich steht jeder Deutsche durchschnittlich 60 Stunden pro Jahr im Stau. Der Verkehrsforscher Michael Schreckenberger von der Universität Duisburg hat all diese gestauten Zeiten addiert und kam zu dem Ergebnis, das jährlich 535.000 Jahre Lebenszeit in Autoschlangen abgesessen werden.

Die 60 Staustunden sind vernichtete, tote Zeit. Schließlich kann man im Auto nicht arbeiten wie im Zug, man kann auch nicht ins Bordbistro gehen und sich ein Bier holen, um dann gemütlich weiterzulesen oder zu arbeiten, alles bei guter Musik, mit viel Beinfreiheit und mit diesem Nonstoplandschaftskino vorm Fenster.

Kommunikativ begabte Menschen schwören auch darauf, im Zug Bekanntschaften zu knüpfen. All das kann man im Auto ja gar nicht. Da kann man nur im Verkehrsfunk hören, dass man noch dreizehn Kilometer Stau vor sich habe. Ansonsten ärgert man sich vor sich hin und trommelt dabei aufs Lenkrad.

Der Autofahrer, immer benachteiligt

Michael Schreckenberger sieht als wichtigste Ursache für Staubildung übrigens den Spurwechsel. Er schreibt, die meisten Autofahrer seien "stark emotionalisiert". Sie fühlten sich im Verkehr oft benachteiligt. Das zeige sich vor allem durch häufigen Spurenwechsel beim Kolonnenfahren, wodurch schnell ein Stau entstehe. Klar, auf der anderen Spur geht's ja immer schneller.

Vielleicht erklärt diese Beobachtung auch das ganze Genöle über die Minimalverspätungen der Bahn. Zugfahrer sind ja keine besseren oder reiferen Menschen. Wahrscheinlich fühlen die sich auch allesamt per se benachteiligt. Wenn der Zug ihnen dann den Gefallen tut, zu spät zu sein, ist das wieder ein prächtiges Puzzlestück in ihrem lebenslangen Indizienprozess gegen ihr eigenes Dasein, siehste, immer ich.

Wir sind hier ja kein Lebenshilfemagazin, aber ein Tipp sei trotzdem zum Schluss erlaubt: Bei der nächsten Verspätung könnten Sie die zehn Minuten ja mal als Bonustrack des Lebens interpretieren, ein zweckfreier Zeitsnack, bevor am Bahnhof dann der durchgetaktete Irrsinn wieder weitergeht.

Alles zum Zugmonitor ...

© SZ vom 10.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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