Ökonomie-Debatte:Welcher Irrtum bitte, Herr Sinn?

Hans-Werner Sinn

Gilt als einer der bekanntesten deutschen Ökonomen: Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.

(Foto: dpa)

Hans-Werner Sinn meint, die Kritiker der herrschenden Lehre verstünden nicht, worum es in der Ökonomie gehe. Nun kontern die Kritiker: Nicht sie lägen falsch - sondern der Professor aus München. Er mache es sich viel zu einfach.

Von Jakob Hafele, Frederick Heußner und Janina Urban

Endlich ist, angestoßen auch durch die Debatte in der Süddeutschen Zeitung, eine öffentliche Diskussion über den Zustand und die Zukunft der Wirtschaftswissenschaften entbrannt. Der Essay von ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, in dem er an dieser Stelle unter dem Titel "Der große Irrtum" die aktuelle Lehre und Forschung vehement verteidigt, hat heftige Reaktionen hervorgerufen.

Das liegt daran, dass wirtschaftswissenschaftliche Theorien die Politik und Gesellschaft maßgeblich beeinflussen und daher umkämpft sind. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson sagte einmal: "Es ist mir gleichgültig, wer die Gesetze eines Landes macht - solange ich ihre Wirtschafts-Lehrbücher schreiben kann." Es ist daher problematisch, dass die Wirtschaftswissenschaften nur eine einzige Betrachtungsweise kennen: Der Fokus auf Markt und Effizienz dominiert eine Disziplin, die eigentlich wichtige Beiträge zu den akuten Problemen unserer Welt leisten sollte.

Das einseitige Bild von Wirtschaft

Sinn ist einer der bekanntesten deutschen Ökonomen. Was er sagt, findet meist viel Widerhall in der Öffentlichkeit. Er wirft nun den Kritikern der herrschenden Lehre vor, sie hätten die Wirtschaftswissenschaften nicht verstanden. Ökonomen würden nicht an perfekte Märkte glauben, sondern gerade nach ihren Fehlern suchen. Doch genau das ist das Problem der aktuellen Wirtschaftswissenschaft. Sie orientiert sich ständig am Idealbild des Markts und blickt so immer nur aus einer Perspektive auf die Wirtschaft.

Das beginnt schon mit den ersten Vorlesungen im Wirtschaftsstudium. Dort lernen die Studierenden, dass die Wohlfahrt aller Menschen steigt, wenn sie sich auf Märkten eigennützig verhalten. Das ist der Kern der neoklassischen Theorie, die unser Verständnis von Wirtschaft tief geprägt hat. "Der Preis wirkt auf Angebot und Nachfrage" und "so viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig", sind nur zwei von vielen Binsenweisheiten, die wir der Neoklassik zu verdanken haben.

Die aktuelle Situation in den Wirtschaftswissenschaften ist in etwa so, als würde man vor seiner Schlafcouch stehen und sich fragen, warum sie sich nicht mehr vernünftig ausziehen lässt. Wenn man immer wieder von vorn auf diese Couch blickt, wird man nie bemerken, dass an der Rückseite eine rostige Schraube den Auszug blockiert. Dafür muss man die Couch auch von der anderen Seite begutachten. Übersetzt heißt dies: Durch die einseitige und auf den Markt fokussierte Betrachtungsweise der Ökonomik gehen wichtige Erkenntnisse über unsere Wirtschaft einfach verloren.

Ökonomen als Ärzte?

Wie einseitig und problematisch das Idealbild vom Markt ist, wird besonders deutlich, wenn Hans-Werner Sinn Ökonomen mit Ärzten vergleicht. Dieser Vergleich malt zunächst ein positives Bild. Krisen werden mit Krankheiten gleich gesetzt und sind somit die Ausnahme, nicht der Regelfall. Ihre Ursachen sind klar und unumstritten. Der Ökonom als Arzt erscheint als Retter in der Not, der weiß, was gut für den Patienten ist.

Dieses Bild ist jedoch sehr problematisch. Verborgen bleibt, dass so die Wirtschaft mit dem Markt gleichgesetzt wird, der als prinzipiell gesunder Organismus und Ideal gesellschaftlicher Gesundheit verstanden wird. Komplexe wirtschaftliche Realitäten wie die Finanzkrise, in denen ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren beinahe zum Zusammenbruch des Organismus geführt hat, werden auf einzelne Teilaspekte reduziert, wie etwa Eigenkapitalquoten. Eine umfassendere Behandlung, die Krankheiten mit Rückgriff auf vielfältige Ursachen und deren Zusammenspiel erklärt, ist damit aus dem Blickfeld verschwunden.

Auch eine grundsätzlichere Kritik, welche die Krise als Symptom einer viel weitreichenderen Krankheit des gesamten Organismus versteht, unterbleibt. Ursache und Lösungsweg von Krisen sind hoch umstritten. Die eine Wahrheit über die Finanzkrise existiert nicht. Wenn Ökonomen dennoch, wie Ärzte, nur eine einzige Art von Lösung als alternativlos "verschreiben", wird ersichtlich, wie problematisch die Einseitigkeit der aktuellen Wirtschaftswissenschaft ist.

Deutlich wird das etwa im Falle der Austerität in Südeuropa, wo man menschliches Leid als Nebenwirkung einer bitteren Pille beschreibt, die dem Patienten notfalls auch gegen seinen Willen verabreicht werden muss.

Der Deckmantel der Objektivität

Ökonomen sind keine neutralen Beobachter, selbst wenn Hans-Werner Sinn uns das mit dem Arzt-Vergleich weismachen möchte. Wirtschaftswissenschaftliche Analysen und Politikempfehlungen sind immer normativ, da den angewandten Modellen bestimmte Annahmen über menschliches Verhalten und unserer Welt zugrunde liegen. Wenn pauschal angenommen wird, dass ein Markt zu einer optimalen Verteilung führt, ist das nicht wertfrei. In der neoklassischen Theorie ist das Ziel, eine effiziente Verteilung zu erreichen.

Ob die so erreichte Verteilung allerdings gerecht ist, ist damit noch lange nicht geklärt. Damit wird Effizienz über Gerechtigkeit gestellt. Anders ausgedrückt geht es darum, dass alle Produkte auf dem Markt ihre Abnehmer finden; ob dabei die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, ist nur von untergeordnetem Interesse.

Damit ist die Mainstream-Ökonomik zur Vertreterin einer bestimmten Weltanschauung geworden. Dies ist besonders brisant, da sie sich als eine objektive Wissenschaft verkauft. Sie legt ihre normativen Bestandteile nicht offen, weder im Studium, noch in der Forschung, noch in der Politikberatung. Der Einfluss der ökonomischen Normen auf unsere Wirtschaftsrealität geschieht also unter dem Deckmantel der Objektivität.

Deshalb: Plurale Ökonomik

Die Theorien des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams sind normativ, sie sind einseitig und haben großen Einfluss auf die Politik. Wenn Hans-Werner Sinn in seiner Verteidigungsschrift darauf hinweist, dass die moderne Mainstream-Volkswirtschaftslehre Fälle von Marktversagen kennt oder Umweltprobleme als Kostenfaktor begreift, ist unsere Kritik dadurch keinesfalls widerlegt.

Im Gegenteil: Alle diese Einwände sind nur Spielarten der abstrakten Grundidee, dass Märkte prinzipiell von ganz allein zum größtmöglichen Wohlstand führen. Doch neben der neoklassisch inspirierten Mainstream-Ökonomik existieren viele weitere Denkschulen - etwa die Komplexitätsökonomik, die Österreichische Schule, der Post-Keynesianismus oder die Marx'sche Ökonomik.

Diese Schulen wählen andere Perspektiven und beschäftigen sich zum Beispiel mit komplexen Systemdynamiken, mit Verteilungsgerechtigkeit oder der Rolle von Macht in einer Gesellschaft. Und sie kommen meistens zu völlig anderen Schlüssen als die Neoklassik.

Alle diese Perspektiven können uns helfen, die komplexe Realität, in der wir leben, zu verstehen und angemessene Antworten auf wirtschaftliche Probleme zu finden. Deshalb brauchen wir eine pluralistische Wende in den Wirtschaftswissenschaften. Nicht die eine Theorie, die alles erklären kann, wird benötigt - sondern eine Vielfalt aus Methoden und Theorien und eine interdisziplinäre Herangehensweise, um ökonomischen Krisen und Herausforderungen der heutigen Zeit angemessen begegnen zu können.

Probleme wie die hohe Arbeitslosigkeit, die Eurokrise oder der Klimawandel müssen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden - nur so können wir zu einem Bild kommen, das dem komplexen Phänomen "Wirtschaft" gerecht wird.

Jakob Hafele, 26, Frederick Heußner, 26, und Janina Urban, 25, sind Mitglieder im Netzwerk Plurale Ökonomik (www.plurale-oekonomik.de)

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