Nahaufnahme:Im Hirn verdurstet

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"Mir fiel auf, wie notwendig Geld ist - auch, um am kulturellen Leben teilhaben zu können. Verhungern kannst Du nicht in Deutschland, aber dafür im Hirn verdursten." Götz Wörner. (Foto: Tobias Bohm)

Als Musikproduzent verlor Götz Wörner alles: Firma, Freundin, Wohnung. Und begann danach ganz neu: Als Hartz-IV-Empfänger organisiert er Kultur für Arme.

Von Lars Langenau

Im Jahr 2008 war er am Boden: Das Telefon funktionierte nicht mehr, in der Wohnung stellte der Versorger den Strom ab. Sein Musiklabel war bankrott und er lebte seit sechs Jahren von Hartz IV. Dabei sah es für Götz Wörner, 56, lange vielversprechend aus: Bereits mit 18 Jahren veranstaltete er Konzerte und produzierte Musik. 1978 veröffentlichte er seine erste Platte. 1985 lernte er Astor Piazzolla kennen, den Erfinder des "Tango Nuevo", nahm ihn unter Vertrag und brachte seine erste CD in Deutschland heraus. "The Vienna Concert" verkaufte sich 250 000 Mal und wurde zum Motor seiner Schallplattenfirma Messidor.

Wörner glaubte an die große Zukunft für lateinamerikanische Musik in Europa, die es ja auch heute gibt. Nur war er zu früh dran. Er "wollte keinen Tango mit Pomade, keine glorreichen Venceremos-Gesänge und auch keine Lambada-Arschwackelmusik produzieren". Messidor war ein Ein-Mann-Unternehmen, aber es lief. Zeitweise besaß er sogar die Rechte an den Kompositionen des Buena Vista Social Club, aber noch vor dessen Boom. Zu seinen Künstlern zählten Paquito D'Rivera, Arturo Sandoval, Ruben Blades, Los Van Van - allesamt Stars, die in Südamerika Stadien füllten.

"Dabei blieb ich konsequent unkommerziell", sagt er. "Obwohl ich ständig unterkapitalisiert war und finanzielle Durststrecken zu überwinden hatte, ging es im Großen und Ganzen bis 1999 gut: Ich jettete durch die Welt. Traf Musiker in Havanna, Rio, Tokio, Paris und düste mit der Concorde von London nach New York. Musikproduzent, immer unterwegs: Was für ein Leben." Andere wurden in dieser Zeit Millionäre. "Obwohl ich arbeitete wie ein Hund, wurden mir nach und nach viele meiner Künstler von den großen, zahlungskräftigen US-Labels abgeworben." Er versuchte sich vorübergehend im Reggae, aber das brach ihm das Genick. 2000 folgte der totale Untergang. "Ich stemmte mich gegen das finanzielle Fiasko, kämpfte und kämpfte."

Aber nichts half: Er verlor alles, die Freundin, die Wohnung: "Wenn schon Absturz, dann richtig." Armut macht einsam. Sechs Jahre saß er jeden Tag im Frankfurter Bethmannpark "und beobachtete Raben". Er war ratlos. "Mit Musik wollte ich nichts mehr zu tun haben, zu groß war die Enttäuschung." Geholfen hat ihm dann die Stadt Frankfurt. Er bekam Sozialhilfe, eine Wohnung. Zeitweise hatte er nur 300 Mark im Monat zur Verfügung. An einem Oktoberabend im Jahr 2005 traten Gonzalo Rubalcaba und Chick Corea auf. Alte Bekannte, doch 32 Euro für den Eintritt hatte er nicht. "Da fiel mir erstmals auf, wie notwendig Geld ist - auch, um am kulturellen Leben teilhaben zu können. Verhungern kannst du nicht in Deutschland, aber dafür im Hirn verdursten."

Als er im Nieselregen vor der Alten Oper stand, kam ihm plötzlich die Idee: Kultur für alle. An die 80 000 Menschen lebten in Frankfurt von Stütze, abgekoppelt von jeglicher Kultur in der Stadt. "Das wollte ich ändern." Im Jahr 2008 gründete er den Verein "Kultur für ALLE", der inzwischen mehr als 11 000 Bedürftigen einen bezahlbaren Zugang zur Kultur ermöglicht. Heute sind mehr als 200 Kulturinstitutionen mit dabei, darunter die städtischen Museen und die Alte Oper. Das Projekt wurde vielfach ausgezeichnet, darunter von der Kanzlerin und dem Bundespräsidenten.

Bis heute verdient Götz Wörner nichts daran, lebt von Hartz IV. "Es reicht, ich bin damit zufrieden." Sein Traum ist, dass sich der Kulturpass weiter national und vielleicht auch international ausbreitet. Ab Herbst wird er erst einmal in ganz Hessen gültig sein.

© SZ vom 28.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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