Nahaufnahme:Aufstieg und Fall

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Irlands Premierminister ist auf Werbetour in Deutschland unterwegs. Die nutzt er, um eine drohende Krise abzuwenden.

Von Jan Willmroth

Mit Auf- und Abstiegen kennt sich Enda Kenny aus. Er gilt als passionierter Wanderer und Bergsteiger, solange es denn die Zeit erlaubt neben seinem derzeit so aufreibenden Job als irischer Premierminister. Vor einigen Jahren, das erzählt man sich über den 65-Jährigen, schaffte er es auf den Gipfel des Kilimandscharo in Tansania, 5895 Meter, einer der anspruchsvolleren Berge des Planeten. Anspruchsvoll war auch Irlands Wiederaufstieg nach der Finanzkrise, die das Land in eine schwere Rezession gestürzt hatte. Kenny steht seit Februar 2011 an der Spitze der Regierung.

Nun droht seinem Land schon wieder eine ökonomische Krise, dabei hat es die vorige gerade erst verdaut: Irland ist das einzige EU-Mitglied mit einer direkten Grenze zu Großbritannien; die irische Wirtschaft ist eng verwoben mit dem Königreich. Wenn der Nachbarstaat die EU verlässt, wenn Zölle erhoben werden und die Grenze zu Nordirland wieder kontrolliert wird, dann sieht es düster aus für viele Firmen und Arbeitnehmer auf der grünen Insel. Seine Staatsbesuche nutzt Kenny deshalb, um die drohende Krise abzuwenden.

Mit dieser Maßgabe reiste er am Mittwochabend nach Deutschland, am späteren Donnerstagnachmittag traf er die Bundeskanzlerin in Berlin. Zuerst aber trat Kenny zum Mittag im Ballsaal eines Frankfurter Nobelhotels auf, vor ihm an den Tischen gut 170 Unternehmensvertreter, quer durch die wichtigsten Branchen der irischen Wirtschaft, Landwirtschaft und Lebensmittel, Industrie und Hochtechnologie, Tourismus und Finanzwirtschaft.

"Wenn Sie von Frankfurt nach Berlin fahren", sagte er, "dann begegnen Sie womöglich einem Unfall. Das ist es, was der Brexit angerichtet hat." Sein Terminplan mit mehreren Unternehmensbesuchen ließ den Schluss zu, wie sehr ihm daran gelegen ist, dass irische Firmen möglichst unbeschadet an diesem "Unfall" vorbeikommen. Dazu müssen sie dringend ihre Exportmärkte außerhalb Großbritanniens ausbauen. Deutschland liegt derzeit auf Platz vier der Ziele für irische Waren und Dienstleistungen, etwa 500 irische Firmen liefern hierher, die Exporte in die Bundesrepublik stiegen in den vergangenen drei Jahren im Durchschnitt um jeweils neun Prozent.

Und es sollen bald deutlich mehr werden. Schon heute leiden viele irische Firmen unter dem Brexit: Durch die starke Abwertung des britischen Pfunds wurden Produkte aus Irland im Vereinigten Königreich schlagartig teurer. Das spüren vor allem Milchbauern und Viehzüchter, ebenso Nahrungsmittelproduzenten. Für letztere ist das Risiko besonders hoch, weil etwa Produkte wie Guinness-Bier oder der Sahnelikör Baileys zwar in Irland hergestellt, aber in Nordirland abgefüllt oder verpackt und wieder von Irland aus exportiert werden. Eine geschlossene Grenze würde diese Lieferketten zerstören.

Kenny möchte solche Schwierigkeiten vermeiden. "Wir wollen", sagt er, "dass die Handelsbeziehungen mit Großbritannien nach den Verhandlungen so weit wie möglich so sind wie jetzt." Mit dieser Haltung steckt Irland aber in einem Dilemma. Denn sobald die Verhandlungen begännen, werde man auf der Seite der anderen 26 übrigen EU-Mitglieder sitzen, sagt Kenny: "Die Iren sind die überzeugtesten Europäer von allen. Die EU-Mitgliedschaft hat unser Land verwandelt."

Die Verwandlung hat der ehemalige Lehrer als Politiker komplett miterlebt. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters wurde er 1975 mit 24 Jahren zum jüngsten Abgeordneten auf dessen Sitz im Unterhaus gewählt. Heute sitzt keiner so lange im Parlament wie er. Vor bald einem Jahr trat er seine zweite Amtszeit als Premierminister an. Sie wird, das ist absehbar, kaum einfacher werden als die erste.

© SZ vom 07.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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