Lettland:Musterschüler

Lesezeit: 1 min

Das baltische Land gilt als Vorbild für andere Krisenstaaten in Europa, zum Beispiel für Griechenland. Der harte Weg sorgt für Ungleichheit im Land.

Von Florian Hassel

Das Wirtschaftsmärchen dauerte nur ein paar Jahre. Die Weltwirtschaftskrise 2009 stürzte Lettland in eine der tiefsten Rezessionen weltweit. Allein 2010 schrumpfte die Wirtschaft um fast 18 Prozent. Bald war fast ein Fünftel aller arbeitsfähigen Letten ohne Job. Die lettische Regierung kürzte ihre Ausgaben drastisch: Zehntausende Staatsdiener wurden entlassen, die Gehälter gekürzt.

Seit 2011 wächst Lettlands Wirtschaft wieder, die Arbeitslosenrate ist von 20 auf gut neun Prozent zurückgegangen. Zudem ist die Staatsverschuldung mit 35 Prozent der Wirtschaftsleistung vergleichsweise gering. Für 2017 plant Finanzministerin Dana Reizniece-Ozola einen Haushalt mit einem Defizit von 1,1 Prozent. "In der EU werden wir als Phönix aus der Asche und als Vorbild für Griechenland gelobt. Hätten die Griechen auch schnell harte Reformen und Sparmaßnahmen beschlossen, ginge es ihnen heute besser." Das freilich ist unter Wirtschaftswissenschaftlern umstritten.

Bei allem Wachstum ist Lettland eine der ungleichsten Gesellschaften Europas: Ein Einheitssteuersatz von 23 Prozent Einkommensteuer und zehn Prozent auf Kapitaleinkünfte haben viele Lette gerade in der Hauptstadt Riga reich gemacht. Wer auf dem Land wohnt, ist wirtschaftlich oft abgehängt. Die Durchschnittsrente liegt bei 288 Euro; bei den Sozialausgaben ist Lettland der EU-Statistikbehörde Eurostat zufolge das Schlusslicht der EU. Mehr als 200 000 Letten sind im vergangenen Jahrzehnt nach England, Schweden oder Deutschland ausgewandert - bei einer Bevölkerung von nur gut zwei Millionen der höchste Bevölkerungsverlust in der gesamten EU. Die meisten der Auswanderer flohen allerdings nicht vor der Arbeitslosigkeit.

Im Ausland suchten - und fanden - sie zumeist höhere Bezahlung, ein besseres Gesundheitssystem und bessere Chancen für ihre Kinder. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) hält die Rückkehr einer großen Zahl von Auswanderern für unwahrscheinlich. Lettland müsse eine Einwanderungspolitik entwickeln und jährlich Tausende Menschen aus dem Ausland anwerben - etwa aus Russland und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Das aber ist in Lettland politisch tabu. "Wir Letten haben jahrhundertelang unter der Herrschaft fremder Regierungen und Länder gelebt. Das führt zu einer Neigung dazu, sich abzuschotten, um als Nation zu überleben", sagt die Ministerin. "Wir müssen uns zwischen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und nationalen Werten platzieren - und im Moment sind die Werte stärker."

© SZ vom 30.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: