Lebensmittel:Krumm und krummer - wie unperfektes Gemüse den Markt erobert

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Klein, groß, dick, dünn: Karotten wachsen unterschiedlich. Der Handel aber braucht einheitliche Formen - für den Transport und den anspruchsvollen Kunden. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
  • Elf Millionen Tonnen verzehrbare Lebensmittel werden in Deutschland pro Jahr weggeworfen - das Essen, dass es gar nicht erst in den Handel schafft, noch nicht mit eingerechnet.
  • Das soll sich nun, wieder einmal, ändern: Der Discounter Penny hat angekündigt, künftig auch unperfektes Biogemüse zu verkaufen.

Von Lea Hampel und Vivien Timmler

"Glatt" müssen sie sein, "von frischem Aussehen", "regelmäßig geformt". Was an die Vorgaben für perfekte Haut beim Modelcasting erinnert, ist tatsächlich FFV-10, die Verordnung der Vereinten Nationen für Karotten. Diese Vorgaben muss das Gemüse erfüllen, um in die höchste Handelsklasse "Extra" eingestuft zu werden. Doch nicht alle Karotten sind äußerlich perfekt, die meisten sind nicht "extra", sondern Handelsklasse I oder II. Und einige erfüllen keinerlei Vorgaben und landen gar nicht erst im Lager des Bauern oder beim Großhändler.

Genaue Angaben, wie viel Obst und Gemüse es nicht zum Verbraucher schafft, weil es die Normen und Ansprüche von Händlern und Kunden nicht erfüllt, gibt es nicht. Als sicher gilt: Es ist eine hohe Zahl, vergleichbar vielleicht mit den schätzungsweise elf Millionen Tonnen Lebensmitteln, die im Jahr weggeworfen werden. Nicht ohne Grund haben viele Bauern mittlerweile Maschinen angeschafft, die bei der Ernte das Äußere der Lebensmittel kontrollieren. Entspricht eine Kartoffel nicht den Standards, wird sie untergepflügt.

Noch ist die krumme Karotte kein Trend

Unmengen vernichteter Ernte - daran soll sich nun, wieder einmal, etwas ändern. Der Discounter Penny hat angekündigt, künftig auch Biogemüse zu verkaufen, das nicht den klassischen Gemüse-Schönheitsidealen entspricht.

Mit diesem Schritt entspricht der Discounter dem Zeitgeist: Lebensmittelverschwendung ist ein Aufreger. Es wird angeprangert, dass andere Kriterien als der Geschmack eine große Rolle spielen. Schon seit drei Jahren versuchen beispielsweise die Gründer des Projekts "Ugly Fruits" (hässliche Früchte), deutsche Supermarktketten davon zu überzeugen, Obst und Gemüse mit Makel von Bauern aus der Region zu beziehen. Auch von sich aus haben größere Ketten in der Vergangenheit immer wieder bekannt gegeben, auf mehr Vielfalt im Gemüseregal zu setzen: Bei Edeka gab es die Aktion "Keiner ist perfekt", Rewe Österreich nannte die Produkte "Wunderlinge", beim Schweizer Coop hießen sie "Ünique".

Doch während die Unternehmen sich über kurzfristig gestiegene Umsätze freuten, waren die Aktionen meist auf wenige Wochen begrenzt. Noch scheint die krumme Karotte kein Trend zu sein. Zum einen liegt das am Verbraucher, der bewertet Qualität nach dem Äußeren und achtet auf den Preis. Achtzig Prozent des Einkaufs seien Routine, sagt Frank Waskow von der Verbraucherzentrale NRW. Das andere Problem aber sei der Handel. "Der hat die Verbraucher über Jahrzehnte hinweg an makelloses Essen gewöhnt", kritisiert Waskow.

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Gesetzliche Vorschriften sind sehr liberal

So sieht es auch Heinrich Stevens, der bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung seit mehr als 30 Jahren die Einhaltung von Normen kontrolliert. Die gesetzlichen Vorschriften seien liberal, betont er, und an der Transportier- und Verzehrbarkeit ausgerichtet. Darüber hinaus könne jeder Händler Produkte ohne Angabe von Handelsklassen verkaufen. Die Gurke könnte dann theoretisch so krumm sein wie ein Bumerang. "Aber keiner macht das - die nehmen immer Handelsklasse I", sagt Stevens.

Zudem hätten Händler oft eigene Vorgaben, die weit über gesetzliche Normen hinaus gingen. Beispiel Karotten: Nach EU-Norm dürften in einer Packung Karotten sein, die zwischen 50 und 250 Gramm wiegen. In der Praxis finde man die selten. Auch "Ugly Fruits" hat schlechte Erfahrungen mit dem Handel gemacht; mehr als ein Pilotprojekt wurde nicht aus der Zusammenarbeit. "Für die Ketten war im Endeffekt der Aufwand größer als der Ertrag. Dass es nicht um Profit geht sondern darum, Lebensmittel zu retten, haben sie nicht wirklich verinnerlicht", sagt Daniel Plath, einer der Gründer.

Das will der zur Rewe-Group gehörende Penny nun anders machen: Die nicht so hübschen Möhren sollen dort sogar für den gleichen Preis verkauft werden wie jene, die der Norm entsprechend. Und auch Konkurrent Aldi gibt an, bei Bio-Obst und Gemüse toleranter zu sein.

Es ist Zeit für ein grundsätzliches Umdenken

Ob solche Schritte wirklich helfen, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, ist eine andere Frage: Zum einen wird nicht jedes Gemüse, das es nicht in den Supermarkt schafft, weggeworfen. Möhren werden beispielsweise für die Tierfutterproduktion verwendet. Viele Bauern verkaufen ihre Erträge an Safthersteller oder Suppenfabrikanten - wenn auch für einen geringeren Preis als im Einzelhandel.

Langfristig nötig sei grundsätzliches Umdenken, sagt Verbraucherschützer Waskow. "Der Konsument ändert sein Verhalten nur, wenn er kontinuierlich mit etwas Neuem konfrontiert wird, sprich: über Jahre hinweg." Vielleicht würden kleine Projekte sogar mehr helfen als große, viel beworbene Aktionen. "Ugly Fruits" hat mittlerweile eine eigene Infrastruktur in den Räumen Berlin und München: Mehrmals die Woche holen Mitarbeiter bei Bauern im Umland nicht normgerechtes Obst und Gemüse ab und liefern es an Schulen oder Kitas - gegen ein Entgelt. Schließlich soll der Deal für die Bauern kein Verlustgeschäft sein. 10 000 Kilogramm waren es allein 2015, in diesem Jahr soll sich die Menge verzehnfachen.

© SZ vom 19.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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