Konzern in der Krise:Aufräumen im VEB WOB

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Matthias Müller am 15. September auf der Automesse IAA in Frankfurt am Main. Da war er noch Porsche-Chef in Zuffenhausen, und Wolfsburg war weit weg. (Foto: Daniel Roland/AFP)

Der neue Volkswagen-Chef Matthias Müller soll den Abgas-Skandal aufklären und den Konzern umbauen. Ein Himmelfahrtskommando, denn er hat mächtige Gegenspieler.

Von Thomas Fromm, Max Hägler und Klaus Ott, München/Stuttgart

In der DDR führten die großen, mächtigen Kombinate, die wichtigsten Unternehmen der ostdeutschen Industrie, ein passendes, knappes Kürzel im Namen: VEB. Es war die Abkürzung für: Volkseigener Betrieb.

Auch Volkswagen ist, in gewisser Hinsicht, ein volkseigener Betrieb. Nirgends ballt sich die Macht von Staat und Gewerkschaft derart wie bei Volkswagen in Wolfsburg. Wer den Konzern führen will, der kann das nur mit dem Land Niedersachsen, nur mit der IG Metall. Nicht gegen sie.

Matthias Müller, 62, hat das gewusst, als er vor drei Wochen Ja gesagt hat, um Volkswagen in höchster Not zu retten. Und nun, nach den ersten, anstrengenden Wochen im Unternehmen, weiß er es noch ein wenig besser. Natürlich wollen auch der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, und Betriebsratschef Bernd Osterloh, dass der Abgasskandal überwunden wird. Aber sie haben - freundlich, aber bestimmt - schon mal klargemacht, dass die Aufräumarbeiten keinesfalls auf Kosten der Arbeitnehmer gehen dürfen. Klar doch.

Einige Zöpfe hat Müller bereits unter das Messer gelegt

Für Müller ist es ein ziemlich extremer Rollenwechsel: von Porsche zu VW, vom schwäbischen Zuffenhausen nach Wolfsburg, vom sauberen Schwabenland in die Trabantenstadt Wolfsburg. Volkswagen: Das ist ein Großkonstrukt aus Filz und Bürokratie, in dem "viele Abteilungen dick und fett sind wie eine Made im Speck", sagt ein Konzernkenner. Aus dem Arbeitnehmerlager heißt es, man erwarte jetzt "Offenheit und Transparenz". Dafür müsse der neue Chef sorgen, er müsse "einige alte Zöpfe abschneiden".

Aber welche Zöpfe darf Müller am Ende wirklich abschneiden? Wessen Macht darf er beschneiden? Und wessen nicht? Was ist, wenn er aufgrund all der drohenden Milliardenstrafen und des Vertrauensverlusts, den VW bei den Käufern erleidet, doch Stellen streichen muss? Nicht zufällig weisen Experten darauf hin: VW, der kurzzeitig größte Autobauer der Welt, verkauft genauso viele Fahrzeuge wie Toyota - aber beschäftigt doppelt so viele Mitarbeiter.

Einige Zöpfe hat Müller bereits unter das Messer gelegt: Er will die teils exorbitanten Gehälter stutzen, wohl auch beim spendablen Sport-Sponsoring und Marketing Hand anlegen - alles wird gerade geprüft. Am Dienstag teilte der Konzern mit, die Investitionen für die Marke VW um eine Milliarde Euro im Jahr zu kürzen - und das in einem Konzern, in dem verwöhnte Ingenieure gewohnt waren, für ihre Projekte meist problemlos Geld zu bekommen. Am Donnerstag wird er den 1000 wichtigsten Führungskräften des Konzerns in Leipzig sagen, was auf sie zukommen wird.

VW steckt wegen der Affäre um gefälschte Abgasmessungen in einer existenziellen Krise. Was diese Krise aus VW macht, lässt sich seit fast vier Wochen tagtäglich beobachten. Aber was macht sie eigentlich aus diesem Müller, der an die Spitze geholt wurde, um VW zu retten? Der Manager in der Rolle des großen Sanierers - das ist neu für Müller. Zuletzt wechselte er seine Rolle im Herbst 2010, da wurde er Porsche-Chef. Vom ersten Tag an: cooler Schlendergang, immer einen lockeren Spruch parat. Selbst wer ihn nicht kannte, sah sofort: Der passt in einen Porsche 911. Müller war eher der Typ Autorennen als der Typ Vorstandssitzung, eher Steve McQueen als steifer Topmanager. Jetzt wird der Rennfahrer zum Konzernumbauer, der Steve McQueen zur großen Hoffnung für ein taumelndes Unternehmen. Es gibt viel zu tun für den Konzernveteranen in Wolfsburg, wo bisher ein enger Führungskreis herrschte, darunter 600 000 Befehlsempfänger. Vor allem will er, sagt ein Vertrauter, dass "alle wieder ihre eigentliche Rolle" einnehmen: Die einen sollen einfach nur Eigentümer sein, die anderen nur kontrollierende Arbeitnehmervertreter und die Vorstände wiederum einfach nur Manager. Müller, berichten Konzerninsider, habe zudem schon vor Jahren Veränderungen gefordert, die alle auf weniger Zentralismus hinausliefen: Er wollte die einzelnen Marken stärken, ihnen und den Regionen mehr Eigenverantwortung geben. Das Credo, sinngemäß: Wir brauchen nicht den Obermufti in Wolfsburg mit einem riesigen Apparat, sondern viele Machtzentren. Müller habe seine Vorschläge Winterkorn sogar schriftlich vorgelegt - nur: Bei dem sei das offenbar in der Schublade verschwunden. Ein Insider sagt: Winterkorn sei im Grunde ein sehr unpolitischer Mensch, ein guter Ingenieur und Techniker zwar, aber: Stratege?

Müller ist ein Techniker. Aber er ist auch ein Stratege. Anfang September, zwei Wochen vor dem Abgasskandal, gab er der Süddeutschen Zeitung ein Interview in der Porsche-Zentrale in Zuffenhausen. Und er, der Sportwagenmanager, wurde auf einmal ungewöhnlich staatsmännisch. Sprach über die Not der Flüchtlinge und die Verantwortung der Bosse. War das schon der Anfang der Wandlung? Zu dem Zeitpunkt war er als möglicher Nachfolger Winterkorns im Gespräch. Irgendwann, vielleicht 2018, vielleicht früher. Dass Winterkorn ein paar Tage später zurücktrat und Müller an die Spitze gespült wurde, konnte sich da noch keiner denken.

An einem Freitag Ende September muss Müller dann seine neue Rolle zum ersten Mal spielen: Dunkler Anzug, weißes Hemd, gestreifte Krawatte, die Hände ruhig auf dem Tisch, der Ton sehr ernst. Müller sagt: "Wir werden diese Krise bewältigen." Und: "Ich übernehme eine Aufgabe in Zeiten, in denen VW vor nicht gekannten Herausforderungen steht." Das ist nicht nur eine ungewohnte Sprache für den Automanager - das ist ein ganz neuer Müller.

Dass kaum einer diesen Müller vor seiner Zeit als Porsche-Chef kannte, bedeutete nicht, dass Müller ein Neuer war. Schon seit vier Jahrzehnten ist der 62-jährige im Konzern unterwegs, als Werkzeugmacher-Lehrling fing er Anfang der 70er-Jahre in Ingolstadt an. Er startete bei Audi - wie sein Vorgänger Martin Winterkorn und der alte Konzernpatriarch Ferdinand Piëch.

Nun muss ausgerechnet er den Anti-Winterkorn und Anti-Piëch geben. Einige sagen, dass das nicht funktionieren könne mit einem, der schon so lange da sei. Allerdings, so Aufsichtsratskreise, habe Müller "nach menschlichem Ermessen mit der Abgasaffäre nichts zu tun". Allein schon, weil Porsche von der Affäre nicht betroffen sei; Müller habe auch nicht zum allerengsten Führungskreis gehört.

Andererseits kennt er VW gut genug, er weiß, wo es in diesem Konzern hapert. Deshalb hat er nun die Rolle des Auf- und Umbauers. Müller sei unkonventionell und sicherlich "nicht der Traumkandidat für Investorenmeetings in New York", sagt ein Manager. Aber er wisse dafür, "wie er die Leute in Wolfsburg packen" muss. Und nicht wenige hätten "die Schnauze voll von Druck und Filz". Deshalb ging Müller letzte Woche auch direkt ins Werk und sprach zur Mannschaft: 20 000 Mitarbeiter hörten ihm bei der Betriebsversammlung zu.

Ministerpräsident Weil beklagt, VW habe viel zu spät Farbe bekannt

Die Menschen packen, das muss Müller jetzt hinkriegen. Deshalb reist der neue Chef an diesem Donnerstag auch nach Leipzig. Es ist ein Termin, der für zehn Uhr angelegt ist und bis in den Abend gehen könnte: Müller will seinen 1000 Führungskräften sagen, wie es weiter gehen wird . Er wird ihnen erklären, dass nun gespart werden muss, denn die Kosten der Affäre gehen in die Milliarden. Und der Konzern braucht nach all den Jahren eine neue Kultur. Der neue VW-Konzern soll nicht mehr der alte sein; kein Konzern, in dem wenige Männer kommandieren und der Rest, in Angst erstarrt, die Befehle ausführt. Denn auch dies dürfte eine Lehre sein aus dem Skandal um Diesel-Abgase: Wenn die Missstände schon länger bekannt waren und trotzdem niemand auf das Problem reagierte, dann könnte das auch daran liegen, dass die Betroffenen Angst hatten, das Problem nach oben zu tragen. Es war eine Kultur des Verschweigens, die auch Ministerpräsident Weil am Dienstag im Landtag scharf kritisierte: In der Abgasaffäre habe es mehr als ein Jahr Gespräche zwischen US-Behörden und Volkswagen USA gegeben, bis VW die Manipulation eingeräumt habe. "Dieses Eingeständnis hätte klar und deutlich sehr viel früher erfolgen müssen", rügte Weil.

Der Auftritt Müllers vor den Volkswagen-Führungskräften in Leipzig wird auch deshalb interessant, weil es um die Frage geht: Wie stark setzt er sich von Winterkorn und Piëch ab? Emanzipiert er, der Audi-Mann aus Ingolstadt, sich vor 1000 Menschen ganz von der Ära seiner beiden Vorgänger?

Und wie lange wird er es nun machen, der 62-Jährige in seiner neuesten Rolle? Aus hohen Konzernkreisen heißt es: Schon vor der Abgasaffäre habe Müller klargemacht, dass der nächste Vertrag sein letzter sei. Dann sei Schluss, heißt es.

© SZ vom 14.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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