Forum:Die Rechnung muss aufgehen

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Oliver Geden ist Klimapolitik-Experte und Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. (Foto: SWP/oh)

Ein halbes Jahr vor dem Weltklimagipfel ist es höchste Zeit für eine ernsthafte Debatte über das Emissionsbudget. Und über Technologien, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen. Ein Gastbeitrag.

Von Oliver Geden

Wo immer derzeit über Klimaschutz diskutiert wird, kommt recht bald die Rede auf das globale Emissionsbudget. Es gibt an, wie viele Treibhausgase die Menschheit überhaupt noch ausstoßen darf, wenn sie die Erderwärmung auf zwei oder gar nur 1,5 Grad begrenzen will. Ein bestechend klares Konzept - nur leider mit einem entscheidenden Haken: Die Staatengemeinschaft hält sich nicht daran.

Parallel zu den weltweit steigenden Emissionen hat sich in den vergangenen Jahren eine Art Schattenhaushalt etabliert, mit dem sich das Budget großzügig überziehen lässt. Die Rückzahlung dieser Schulden ist für die zweite Jahrhunderthälfte vorgesehen, in Form sogenannter negativer Emissionen. In der Öffentlichkeit wird dies bisher kaum wahrgenommen, vielen Klimapolitikern ist zumindest das Ausmaß unbekannt. Ein halbes Jahr vor dem Weltklimagipfel in Paris ist es höchste Zeit für eine ernsthafte Budget-Debatte.

Das Konzept des weltweiten Emissionsbudgets hat sich in den vergangenen Jahren rasant etabliert. Im fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC nimmt es einen zentralen Platz ein. Das Konzept ermöglicht es zu bestimmen, wie viele Treibhausgase insgesamt noch ausgestoßen werden dürfen. Damit ist es sehr viel exakter und rigoroser als die zuvor dominierenden Minderungsvorgaben. Mit einem Ziel wie "globale Emissionsminderung um 50 Prozent bis 2050" konnte die Politik sehr viel flexibler auf die Frage reagieren, bis wann die notwendige Trendwende erreicht sein müsste, um das Ziel noch zu schaffen. Der Gedanke hinter dem Treibhausgas-Budget ist nun: Wird jetzt die noch mögliche Gesamtmenge der Emissionen klar definiert, schränkt das die Handlungsfreiheit von Politik und Wirtschaft deutlich ein. Je später die weltweiten Emissionen ihren Höhepunkt erreichen und je höher dieser sein wird, desto schneller muss der Treibhausgasausstoß nachfolgend sinken, um noch im Rahmen des Budgets zu bleiben.

Was aber geschieht, wenn die Politik sich nicht an dieses Budget hält? Was, wenn die Emissionen weiter steigen, oder jedenfalls kein globaler Höhepunkt in Sicht ist, nach dem sie dann schnell bis auf nahezu Null absinken? Dann wird die Rigorosität des Konzepts zum klimapolitischen Problem. Wenn klar ist, dass die Menschheit in spätestens 30 Jahren das Budget ausgeschöpft hat, falls sie weiter so viel emittiert wie heute, dann greift das Prinzip Hoffnung nicht mehr. Der bloße Hinweis, dass man die "minus 50 Prozent bis 2050" trotzdem noch erreichen könne, weil doch erneuerbare Energien gerade weltweit einen Boom erleben, genügt nicht mehr. Die Rechnung muss am Ende aufgehen. Ein Blick auf das Budget, mit dem sich die Erderwärmung auf zwei Grad begrenzen ließe, lässt nur noch eine Aussage zu: Ein Einhalten ist nicht mehr realistisch.

Technologien, mit denen sich Kohlendioxid aus der Atmosphäre entziehen ließe, sind nicht erprobt

An dieser Stelle kommen die negativen Emissionen ins Spiel. Was wäre, wenn man das Emissionsbudget zunächst überziehen und das Defizit dann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wieder ausgleichen könnte? Was, wenn man den globalen Ausstoß an Treibhausgasen nicht nur auf Null senken würde, sondern Wege fände, der Atmosphäre zusätzlich noch Treibhausgase zu entziehen; etwa durch groß angelegte Wiederaufforstungsprogramme? Im Prinzip ist das denkbar. Doch inzwischen bahnt sich ein Defizit von solchem Ausmaß an, dass sehr viel drastischere Maßnahmen notwendig werden. Aufforstung alleine wird nicht genügen, denn die zusätzlich wachsenden Bäume binden Kohlendioxid nur einmal.

Die Klimaökonomen des IPCC setzen in ihrem neuesten Bericht deshalb vor allem auf eine Technologie namens BECCS. Der Weltklimarat geht davon aus, dass negative Emissionen am effizientesten möglich werden, wenn man schnell wachsende Biomasse anbaut, sie in Kraftwerken verfeuert, das freigesetzte CO₂ abscheidet und unterirdisch speichert. Diese Technologie ist bisher allerdings noch nicht erprobt. Um die negativen Emissionen zu erreichen, die schon heute in klimaökonomischen Modellen eingerechnet sind, müsste man auf etwa 500 Millionen Hektar Fläche Biomasse anbauen. Eine Fläche, eineinhalbmal so groß wie Indien. Auch die notwendigen Kapazitäten für den Transport und die Speicherung des der Atmosphäre entzogenen CO₂ wären enorm. Aber das alles ist einkalkuliert, wenn Klimaforscher, Umwelt-NGOs und Politiker betonen, das Zwei-Grad-Ziel sei immer noch erreichbar, und das bei nur geringen Wohlfahrtsverlusten von 0,06 Prozent pro Jahr.

Wenn man negative Emissionen in Modellen integriert, hat das einen entscheidenden Vorteil: Mit ihnen können Ökonomen das ursprünglich von Naturwissenschaftlern errechnete Budget erheblich ausweiten. Beide rechnen mit dem gleichen Netto-Umfang. Die um negative Emissionen erweiterten Budgets der Ökonomen erlauben in den kommenden Jahrzehnten allerdings einen deutlich höheren Brutto-Ausstoß von fossilem CO₂, in manchen Szenarien gar doppelt so viel. Auf diese Weise wird das Konzept des Emissionsbudgets um einen Verschuldungsmechanismus erweitert. Die bis 2050 angehäuften "CO₂-Schulden" sollen in den darauffolgenden Dekaden wieder zurückgezahlt werden - so zumindest die Hoffnung.

Erstaunen muss daran zweierlei: zum einen, dass selbst die Nachhaltigkeitspolitik inzwischen nicht mehr umhinkommt, auf dubiose Rechenoperationen zurückzugreifen; zum anderen, dass in der Umweltpolitik eines nicht gerade risikofreudigen Landes wie Deutschland unhinterfragt Technologien vorausgesetzt werden, deren Risiken nicht einmal ansatzweise erforscht, geschweige denn öffentlich diskutiert worden sind. Zwar wären nicht alle Technologien, mit denen sich Kohlendioxid aus der Erdatmosphäre entziehen ließe, auf enormen Landverbrauch oder CO₂-Lagerstätten angewiesen. Das bedeutet aber nicht, dass alternative Methoden wie die Kalkung oder gar die Eisendüngung der Ozeane weniger öffentlichen Widerstand hervorrufen würden.

Wenn die EU und die in der Umweltpolitik besonders engagierten Mitgliedstaaten wie Deutschland es mit dem viel beschworenen Vorsorgeprinzip ernst meinen, werden sie sich den wachsenden klimapolitischen Zielkonflikten stellen müssen. Es ist an der Zeit, dass die Folgewirkungen der Technologien zum Entzug von CO₂ aus der Erdatmosphäre, deren großflächigen Einsatz die Wissenschaft für die Erreichung ambitionierter Klimaziele inzwischen voraussetzt, auch auf politischer Ebene ernsthaft diskutiert werden. Bis dahin sollte vernünftigerweise gelten: Wir brauchen eine Schuldenbremse für das Emissionsbudget.

© SZ vom 08.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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