EU-Kommission:Junkers blaue Briefe 

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Wenn es darum geht, die Regeln des Stabilitätspakts durchzusetzen, sind alle EU-Staaten gleich. Aber manche sind dann eben doch gleicher.

Von Alexander Mühlauer, Brüssel

Man kann nicht behaupten, dass Jean-Claude Juncker gerne blaue Briefe verschickt. Der EU-Kommissionspräsident hat sich davon verabschiedet, Länder, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen, zu rügen oder gar zu bestrafen. Der blaue Brief, das war einmal ein bevorzugtes Mittel der Kommission, den EU-Staaten zu zeigen, wer über den Pakt wacht. Doch das ist lange her. Juncker hat zu Beginn seiner Amtszeit mehr "Flexibilität" im Umgang mit Defizitländern vorgegeben - und dies zum Teil seiner Strategie erklärt, Europas mächtigste Behörde "politischer" zu führen. Strenge Regeln, wie sie der Pakt vorsieht, werden seither ins Verhältnis zu nationalen politischen Zwängen gestellt.

Das ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in der Geschichte des Pakts. Aus Berlin, Den Haag und anderswo erntet Juncker dafür massive Kritik. Er selbst ist daran nicht ganz unschuldig. In einem für einen Politiker seltenen Moment der Wahrheit hat Juncker die Regeln des Pakts in Augen der Kritiker ad absurdum geführt. Es war im Frühjahr in Paris, als Juncker seinen Umgang mit Frankreichs Defizit auf sehr ungewöhnliche Weise begründete.

Der Kommissionspräsident erklärte, dass er seit Jahren nichts anderes tue, als der Regierung in Paris Ausnahmen von den Regeln des Paktes zu gewähren. Im Jahr 2017 müsse das Defizit wieder den Maastricht-Kriterien entsprechen und unter drei Prozent liegen. Auf die Frage, warum er überhaupt Ausnahmen gewähre, antwortete Juncker: "Weil es Frankreich ist." Er kenne das Land gut, mit seiner speziellen Mentalität, seinen politischen Reflexen, darauf müsse man Rücksicht nehmen. Streiks gegen geplante Wirtschaftsreformen seien eben auch Frankreich. Und deshalb könne man den Stabilitätspakt nicht "blind" anwenden. Und das entscheidet er einfach so. Weil er Juncker ist.

Nun kann man natürlich sagen, dass es klug ist, dass der Kommissionschef bei seinen politischen Entscheidungen auch die Befindlichkeiten einer Nation berücksichtigt. Das ist nicht nur menschlich, es ist in einer EU mit 28 Mitgliedstaaten auch klug, weil es Konflikten vorbeugen kann. Manchmal muss man eben über die Schwächen des anderen hinwegsehen. So kann man es sehen. Gefährlich wird es allerdings, wenn man sich dafür über Regeln hinwegsetzt, die für alle in der Gemeinschaft gelten. Genau das hat Juncker mit seinem "Weil es Frankreich ist" getan.

Dieses Argument mag in Paris gut ankommen, im Rest Europas schürt es Ressentiments, die den Zusammenhalt der EU gefährden. Denn wenn Frankreich sich etwas erlauben darf, weil es eben so ist, wie es ist, dann ist das nicht nur eine beliebige politische Kategorie: Es stellt das Fundament infrage, auf dem Europa gebaut ist: gemeinsame Regeln. So sehen es jedenfalls Deutschland, Österreich und die Niederlande.

Nun ist es nicht so, dass in der Kommission in dieser Frage Konsens herrscht. Als es darum ging, Spanien und Portugal zu bestrafen, weil sie die Regeln des Paktes nicht einhielten, gab es mit dem deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger, dem Kommissionsvizepräsidenten Valdis Dombrovskis und anderen durchaus Vertreter, die sich für blaue Briefe samt Sanktion aussprachen. Doch am Ende entschied Juncker, die Finanzminister darüber entscheiden zu lassen. Auch sie haben sich um eine Strafentscheidung gedrückt. Selbst der gestrenge Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wollte seinen spanischen Parteifreunden nicht wehtun. Bedenkt man dies, klingt manche Kritik aus Berlin ziemlich scheinheilig.

Und so hat das Blame Game zwischen Berlin und Brüssel manchmal einen unterhaltsamen Charakter. Auch das ist begrüßenswert, nur leidet darunter die Ernsthaftigkeit der Debatte. Wenn sich zum Beispiel ein EU-Kommissar wie Pierre Moscovici hinstellt und Junckers Behörde zum "kollektiven Euro-Finanzminister" ausruft, kann es gar nicht anders sein, als dass die Debatte klamaukhafte Züge bekommt. Jeroen Dijsselbloem, der Eurogruppen-Präsident, weist dann darauf hin, dass es immer noch 19 Euro-Finanzminister gebe. Und Schäuble lässt Moscovici mit seiner Idee schön abblitzen. Dabei wäre der Kommissionsvorschlag eine vertiefte Debatte wert. Es gab sie dann auch diese Woche beim Treffen der Euro-Finanzminister - wenn auch nicht allzu tief. Dafür gab es die üblichen Plattitüden. Alles, nur keine ernsthafte Debatte in der Sache.

Das Problem ist, dass viele EU-Staaten der Kommission nicht mehr abnehmen, als Hüterin der Verträge zu agieren. Wie soll man miteinander diskutieren, wenn man einander nicht ganz ernst nimmt?

Moscovici hatte vorgeschlagen, dass in der Euro-Zone insgesamt 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung mehr investiert werden könnten. Dass also Staaten wie Deutschland eine lockerere Haushaltspolitik zur Ankurbelung der Wirtschaft einschlagen sollten. Postwendend zog er die heftige Kritik von Schäuble auf sich, der ihm Kompetenzüberschreitung vorwarf. Dieses vergiftete Klima hemmt die Debatte über eine Reform der Pakt-Kriterien.

Juncker soll, so erzählt man in Brüssel, das 236-seitige Werk ab und an mit sich führen. Darin gibt es eine Doppelseite, die beschreibt, wie der top-down fiscal effort berechnet wird. Eine mathematische Wunderformel, die vorspiegelt, politische Entscheidungsspielräume gebe es nicht. Juncker also hielt eben diese Seite einem Paktverfechter entgegen und forderte: Erklär uns, was das heißt. Böse Zungen behaupten, in Brüssel gebe es nur drei Personen, die das verstehen würden. Wenn überhaupt.

© SZ vom 08.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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