Deutsch-französischer Streit über U-Bahn:Bürgermeisterin fühlt sich von Siemens erpresst

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Ein U-Bahn-Auftrag wird zur Staatsaffäre: Die Chefin von Frankreichs regierenden Sozialisten, Lilles Bürgermeisterin Martine Aubry, erhebt schwere Vorwürfe gegen Siemens. Der Konzern soll gedroht haben, in Frankreich Mitarbeiter zu entlassen, sollte die Stadt ihm einen Auftrag verweigern.

Björn Finke und Michael Kläsgen, Paris

Siemens und die Politik in Frankreich - das ist nicht gerade eine amour fou: Erst bootet die damals noch konservative Regierung den Konzern bei der französischen Atomfirma Areva aus, dann will sie dessen Züge aus dem Tunnel unter dem Ärmelkanal aussperren, und jetzt brachten die Münchner Martine Aubry gegen sich auf, eine der einflussreichsten Frauen des Landes. Die Erfinderin der 35-Stunden-Woche ist nicht nur Bürgermeisterin der Stadt Lille und Tochter des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, sondern auch Chefin der Sozialistischen Partei, die derzeit in Frankreich alle Zügel in der Hand hält. Überdies hat das Dax-Mitglied Siemens nun die Staatsanwaltschaft von Lille am Hals.

Der Frankreich-Chef von Siemens soll noch am Vorabend der Vergabe Lilles Bürgermeisterin Martine Aubry bei einer Veranstaltung aufgesucht haben, um sie zum Einlenken zu bewegen. (Foto: AFP)

Und das alles nur, weil dem Technologiekonzern ein Auftrag über 266 Millionen Euro entging: eigentlich keine große Sache für ein Unternehmen mit zuletzt 73,5 Milliarden Euro Umsatz, davon 2,3 Milliarden Euro in Frankreich. Für diese 266 Millionen Euro will die nordfranzösische Stadt Lille ihre fahrerlose U-Bahn modernisieren lassen - und erteilte im Mai dem heimischen Anbieter Alstom den Zuschlag. Nicht schön, aber auch nicht ungewöhnlich.

Zum Politikum wird der Fall erst durch eine E-Mail, die Siemens am Tag vor der Entscheidung an den Bürochef Aubrys schickte. Über deren Inhalt wird jetzt trefflich gestritten. Aubry und die Mitglieder des Verkehrsausschusses im Stadtrat sehen darin "Erpressung": Siemens drohe, Jobs in Frankreich zu streichen, wenn der Auftrag nicht an die Deutschen gehe.

Für Beobachter sind Arbeitsplatzverluste eine logische Konsequenz

Ein Siemens-Sprecher sagte dazu am Freitag nur, das Unternehmen kommentiere keine laufenden Verfahren. Doch aus dem Umfeld des Konzerns ist zu hören, dass Siemens-Vorstandsmitglied Brigitte Ederer, zuständig für Europa und Personal, tatsächlich eine E-Mail geschickt habe - und zwar, um eine faire Ausschreibung zu fordern.

Beobachter auf deutscher Seite wollen zudem nicht ausschließen, dass das Schreiben auf mögliche negative Folgen für Siemens-Jobs in Frankreich hingewiesen habe. Es sei doch logisch, dass Auftragsverluste Konsequenzen für Arbeitsplätze haben könnten.

Der Verkehrsausschuss in Lille sieht das jedoch nicht als logisch, sondern als erpresserisch an. Und er rätselt darüber, wer Siemens vor der offiziellen Entscheidung gesteckt hat, dass eine Niederlage droht. "Das herauszufinden, ist Gegenstand der Ermittlungen", sagt Eric Quiquet, Ausschussmitglied der Grünen. Die Staatsanwaltschaft bestätigt, dass Vorermittlungen stattfänden. Aus dem Umfeld von Siemens verlautet lediglich, der Konzern habe wohl über Dritte erfahren, dass die Stadt den Auftrag Alstom zuschanzen wolle.

Streit um Ärmeltunnel und Windpark

Damit zog Siemens zweimal hintereinander gegenüber Alstom den Kürzeren. Der Rivale, der zuletzt 20 Milliarden Euro umsetzte, hatte bereits im April den Zuschlag für den ersten französischen Windpark auf See erhalten - Siemens war leer ausgegangen bei dem Projekt in der Bretagne. Dafür gab Alstom beim Streit um Züge für den Ärmelkanal-Tunnel klein bei. Zusammen mit der Regierung in Paris wollte das Unternehmen verhindern, dass dort auch ICEs von Siemens anstatt der eigenen Schnellzüge fahren. Doch im April stoppten die Franzosen ihre Gerichtsklage.

Das Geschäft mit ICEs gehört wie das mit U-Bahnen zum neu gegründeten Sektor "Infrastruktur und Städte" von Siemens - die Münchner haben dort passende Produkte gebündelt, um stärker vom Wachstum der Metropolen zu profitieren. Ob der Konzern gegen die Vergabe des U-Bahn-Auftrags klagt, ist noch offen. Die Frist dafür läuft am Monatsende ab.

Grünen-Politiker Quiquet verteidigt jedenfalls das Votum für Alstom, Protektionismus habe da keine Rolle gespielt: Zwar sei das Angebot von Siemens um elf Millionen Euro billiger gewesen, dafür seien die Wartungskosten bei Alstom jährlich eine Million Euro niedriger. Als "unverschämt" bezeichnet er zudem, dass der Frankreich-Chef von Siemens am Vorabend der Entscheidung Bürgermeisterin Aubry auf einer Veranstaltung heimsuchte, um sie zum Einlenken zu bewegen.

Dabei war Madame Aubry gar nicht mit dem Fall befasst.

© SZ vom 11.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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