Demokratie am Arbeitsplatz:Wir sind die Firma

  • Es gibt sie, mutige Unternehmen, die dem alten, autoritären Führungsstil abschwören und ihre Mitarbeiter über Gehalt und neue Kollegen bestimmen lassen.
  • Gerade auf junge Talente wirkt das Modell anziehend.
  • Kritiker bemerken aber, dass die vermeintliche Selbstbestimmung den gesetzlichen Schutz des Arbeitnehmers ausheble.

Von Catherine Hoffmann

So normal es uns heute erscheint, dass die Völker sich selbst regieren, so verwunderlich hätten es die Menschen im 17. Jahrhundert gefunden, dass es keinen König mehr braucht. Heute funktioniert die Demokratie ganz gut - nur in den Betrieben führt noch immer der Chef die Geschäfte und pflegt mitunter einen einsamen Führungsstil, den BMW-Veteran Eberhard von Kuenheim einmal mit klaren Worten beschrieb: "In großer Höhe fliegt der Adler am besten allein."

Doch der charismatische Anführer, der auch in verworrenen Zeiten den Überblick bewahrt und die richtigen Entscheidungen trifft, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Führung steckt in einer Sinnkrise. Es ist an der Zeit, dass sich die Chefetagen für demokratische Entscheidungen öffnen. Nur klingt die Vorstellung, dass Mitarbeiter ihren Chef wählen, selbst neue Kollegen einstellen und das eigene Gehalt festlegen, noch immer nach: Revolution.

"Wir haben festgestellt, dass gleich nicht gerecht ist"

Aber es gibt sie, mutige Unternehmer, die dem alten Führungsstil abgeschworen haben. Julian Vester ist einer von ihnen. Gemeinsam mit seinem Kommilitonen Jonas Wegener gründete er vor fünf Jahren die Hamburger Agentur Elbdudler, die Marken wie Henkel, Mini oder Bacardi in sozialen Netzwerken Gehör verschafft. "Bei uns dürfen die Mitarbeiter selbst über ihr Gehalt bestimmen", sagt Vester. "Anfangs bekam jeder ein kommunistisches Einheitsgehalt. Doch dann haben wir festgestellt, dass gleich nicht gerecht ist."

Nun muss sich jeder einzelne fragen: Wie viel Geld brauche ich zum leben? Was verdienen meine Kollegen? Wie hoch wäre mein Gehalt auf dem freien Markt? Und: Was kann ich fürs Unternehmen leisten? Wer ehrlich antwortet, kommt auf einen ziemlich realistischen Gehaltswunsch, den er anschließend vor einem kleinen Trupp von Kollegen verteidigen muss. Geben die ihr Okay, entscheiden alle Beschäftigten gemeinsam über den Verdienst. Es gilt der Mehrheitsbeschluss. "Anfangs war das ein Abenteuer, heute läuft das ganz unaufgeregt", sagt Gründer Vester, der inzwischen 40 Leute beschäftigt.

Umsatz, Gewinn, Gehälter sind allen bekannt

Damit das funktioniert, herrscht vollkommene Transparenz. Jeder weiß, wie viel die Kollegen verdienen. Umsatz, Gewinn und andere Kennzahlen sind nicht Herrschaftswissen, sondern allen bekannt. So haben die Mitarbeiter nicht nur ihre eigenes Gehalt im Blick, sondern das Wohl des Unternehmens. "Das hat einen unglaublichen Produktivitätsschub ausgelöst", glaubt Vester. Jedes Team sieht, wo die anderen Teams stehen. Das spornt an. Was auf den ersten Blick hippiemäßig aussieht, ist auf den zweiten Blick ein extrem leistungsorientiertes Unternehmen. Doch auf junge Talente wirkt das Modell anziehend: "Seit sich die Sache mit den Gehältern rumgesprochen hat, bekommen wir viel mehr Bewerber", sagt Vester.

75 %

Drei von vier Chefs sind überzeugt, dass die Führungskultur in Deutschland geändert werden muss. Das ergab eine Befragung von 400 Vorgesetzten im Auftrag der Initiative Neue Qualität der Arbeit. Die meisten sind sich sicher, dass sich selbst organisierende Netzwerke am besten geeignet ist, die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt zu meistern. Sie hoffen, dass die kollektive Intelligenz der Mitarbeiter und Kunden Kreativität und Innovationskraft freisetzt. Die klassische Linienhierarchie wird von den Chefs klar abgelehnt und geradezu als Gegenentwurf von "guter Führung" gesehen. Über die Hälfte der Interviewten geht davon aus, dass das Prinzip Kooperation an Bedeutung gewinnt. Die Chefs glauben, dass die motivierende Wirkung von Geld tendenziell abnimmt. Entscheidungsfreiräume und Eigenverantwortung würden dagegen wichtiger, um Menschen zu motivieren.

Werner Nienhüser, betrachtet die jungen Wilden wie Vester kritisch. Nienhüser ist Professor für Arbeit, Personal und Organisation an der Universität Duisburg-Essen. "Die vermeintliche Selbstbestimmung hebelt alles aus, was der Gesetzgeber an Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze geschaffen hat: individuelles Arbeitsrecht und Betriebsverfassungsrecht gleichermaßen." Er fürchtet, dass die neue Freiheit in Selbstausbeutung endet und oftmals nicht mehr dabei herauskommt als "Pseudopartizipation".

Die Chefs sitzen in der Kantine am gleichen Tisch, lassen sich duzen

Auf dem Bewertungsportal Kununu geben die Mitarbeiter von Elbdulder dem Hamburger Arbeitgeber allerdings Bestnoten für "super Arbeitsklima" und "100% selbstbestimmtes Arbeiten". Damit die Kreativen auch wirklich eigenverantwortlich handeln können, gibt es keine festen Arbeitszeiten, keine abgezählten Urlaubstage und neuerdings sogar die Freiheit, den Chef selbst zu wählen. In zwei Jahren gibt es Neuwahlen. Dann muss sich auch Vester wieder dem Votum seiner Mitarbeiter stellen. Bange ist ihm nicht, dass seine Kollegen ihn dann nicht mehr mögen.

Der von allen gefürchtete Firmenpatriarch erlebt schon seit geraumer Zeit einen Niedergang. Die alte Hackordnung löst sich auf. In vielen Firmenzentralen führt der Weg zum Chef nicht mehr über weiche Teppiche und gepolsterte Türen ins Eckbüro. Die sichtbaren Symbole der Macht verschwinden: Chefs kleiden sich nicht anders als ihre Mitarbeiter, sie sitzen in der Kantine am gleichen Tisch, lassen sich duzen und wählen als Dienstwagen eine Familienkutsche. Wer Führungskraft ist, und wer Untergebener, das ist nicht mehr so einfach zusagen. Und auch die alte Formel "Oben wird gedacht, unten wird gemacht" verliert an Gültigkeit, wenn Angestellte ihrem Chef fachlich überlegen sind.

Zu neuen Einsichten gelangt man gerade dort, wo man es gar nicht vermuten würde: in den Chefetagen selbst. Mehr als drei Viertel der Führungskräfte sagen: So, wie wir im Moment arbeiten, geht es nicht weiter. Linien-Hierarchie, in der alles auf Befehl und Gehorsam beruht, und Management nach Zahlen helfen in einer unübersichtlicher werdenden Welt nicht mehr weiter. Das förderte die Initiative Neue Qualität der Arbeit zutage, die 400 Führungskräfte befragen ließ. Die Chefs merken, "Ich gegen den Rest" funktioniert nicht mehr und suchen immer öfter einen kooperativen Führungsstil.

"Lieber langsam, aber sicher" - damit kann die neue Generation nichts anfangen

Hands up

Hands up! Manchmal ist es besser, wenn Unternehmen demokratisch entscheiden. So lässt sich das kollektive Wissen nutzen.

(Foto: Xavier Arnau/Getty)

Was treibt den Sinneswandel an? "Unternehmen geht es dann gut, wenn sie gute Entscheidungen treffen", sagt die Ökonomin Isabell Welpe; sie hat einen Lehrstuhl für Organisation und Strategie an der Technischen Universität München. "Manchmal ist es besser, wenn einzelne Experten Entscheidungen treffen, manchmal aber auch, wenn diese demokratisch unter Einbeziehung vieler Köpfe getroffen werden. Es gibt kollektives Wissen im Unternehmen und bei Kunden, das man stärker einbeziehen muss." Welpe ist überzeugt, dass der technische Wandel die Demokratisierung von Unternehmen, also mehr Mitsprache für Mitarbeiter ermöglicht. Die Digitalisierung erlaubt das und die Mitarbeiter fordern das. "Kluge Menschen, auf deren Wissen es im Unternehmen ankommt, lassen sich nicht immer durch Anordnungen von oben führen", glaubt die Wissenschaftlerin. "Sie wünschen sich je nach Aufgabe mehr Selbstbestimmung." Das heißt ja nicht, dass alle über alles abstimmen. Für viele Angestellte wäre es schon ein großer Fortschritt, wenn sie selbst entscheiden dürften, an welchem Projekt sie arbeiten oder wer ein Team leitet.

Stattdessen heißt es im Betrieb oft noch: "Mach deine Arbeit und halt dich da raus." Auch in der Werkstatt von Christoph Heermann waren solche Sprüche früher zu hören. Gemeinsam mit seinem Schwager Markus Bleher leitet er in vierter Generation die Heermann Maschinenbau GmbH im schwäbischen Frickenhausen. Seinen Urgroßvater, der Schlosser Paul, hat das Unternehmen 1920 gegründet. Doch mit der Familienphilosophie "Lieber langsam, aber sicher", mit der Hema zu einem der größten Holzbandsägenbauer in Deutschland heranwuchs, kann er nichts anfangen. "Das ist nicht mehr zeitgemäß", sagt der Urenkel.

Einfach ist der Kulturwandel nicht

Die Meister deckelten früher ihre Facharbeiter und ließen sie nicht machen, obwohl die oft besser wussten, was zu tun ist. Das bremste das ganze Unternehmen und wurde zum Problem, als Heermann 2012 einen großen Auftrag an Land zog, Arbeit für eineinhalb Jahre. Heute sind die Hierarchien flacher, es gibt die Geschäftsführung und einen Projektleiter, das ist alles. Die Meister bekamen eine neue Rolle: Sie kümmern sich um den Service für die Kunden, die betreut werden wollen, wenn sie eine neue Hochleistungs-Bandsäge gekauft haben. Das Wichtigste aber: Die übrigen Mitarbeiter haben mehr Verantwortung, sie arbeiten selbständig in kleinen Teams, dürfen entscheiden und nicht mehr nur Anweisungen von oben folgen.

Einfach war der Kulturwandel nicht. "Man braucht viel Geduld mit den Menschen und Einfühlungsvermögen, damit es funktioniert", gibt Heermann zu, "gerade in einem Unternehmen, das so viele altgediente Mitarbeiter hat." Die waren erst einmal verunsichert durch die neuen Managementmethoden. Manche fragten sich: Werde ich noch gebraucht? Andere vermissten klare Anweisungen, die sie einfach abarbeiten konnten. Inzwischen freuen sich alle über die gewonnene Freiheit - und nutzen sie auch, sagt Heermann, der stolz auf seine Belegschaft ist.

Umfragen des Instituts der deutschen Wirtschaft belegen: Ein hohes Gehalt, ein sicherer Arbeitsplatz und gute Karrierechancen sorgen dafür, dass die Beschäftigten zufrieden sind. Wichtig ist ihnen aber auch, Einfluss zu nehmen auf die Organisation der Arbeit, die Wahl der Teamkollegen oder auf Zielvereinbarungen. Sie wollen eigene Ideen verwirklichen können.

Das sagt sich so leicht. Bernd Oestereich hat versucht, den Mitarbeiter in seinem Informatikunternehmen mehr Macht zu geben. "Nicht aus Menschenfreundlichkeit", wie der Gründer der Hamburger Firma Oose betont, "sondern weil das wirtschaftlich sinnvoll ist." Oestereich hat für sich die Soziokratie entdeckt. Sie wurde vom niederländischen Reformpädagogen Kees Boeke begründet, der sie als eine verbesserte Form der Demokratie sah. In demokratischen Prozessen wird gefragt: Wer ist dafür? Sobald sich eine Mehrheit findet, wird auf die Bedürfnisse von Minderheiten gewöhnlich wenig Rücksicht genommen.

Was ist, wenn sich die Kollegen nicht einigen können?

Bei soziokratischen Entscheidungen lautet die Frage: Wer ist dagegen? Solange niemand einen Einwand hat, wird ein Vorschlag umgesetzt. Gibt es Bedenken, versuchen alle Beteiligten gemeinsam zu einer Lösung zu kommen, bis keiner mehr Einwände hat. "Das führt zu qualitativ besseren Lösungen", sagt Oestereich.

Wenn sich die Kollegen nicht einigen können, dann kommt es zu einer Art Schiedsverfahren: Die Betroffenen wählen eine Person, die allein entscheiden darf, nachdem sie alle Mitarbeiter angehört hat. "Es hat eine Weile gebraucht, das einzuüben", sagt der Unternehmer, der bestärkt durch seinen Erfolg immer weiter ging. Inzwischen wählen die Oose-Mitarbeiter Vorstand und Aufsichtsräte auf Zeit. Und im vergangenen Jahr konnten sie als Genossenschaft das Unternehmen komplett in Besitz nehmen. Dass jeder selbst entscheidet, wann, wo und wie er arbeitet, ist eh klar. Selbstverständlich stellen die Informatiker auch neue Kollegen ein.

Heikel wird es allerdings, wenn ein Mitarbeiter nicht mehr ins Unternehmen passt, aus kulturellen oder wirtschaftlichen Gründen. Wer entscheidet dann? "In Ausnahmesituationen wird die Kollegenschaft den verbliebenen Chefs immer eine einsame Entscheidung zubilligen", sagt Oestereich. Demokratische Führung bedeutet nämlich nicht, dass man den formalen Chefs alle Macht abspricht und alle immer gemeinsam führen.

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