Brexit:Preis der Freiheit

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Britische Politiker streiten darüber, ob sich das Land nach dem Brexit weiter an EU-Regeln halten soll.

Von Björn Finke, London

In der Offenbarung des Johannes, im Neuen Testament, ist die Rede von einem Ort namens Armageddon. Der spielt dort eine wichtige Rolle beim Ende der Welt. Manche Fachleute in britischen Ministerien mögen es offenbar anschaulich und drastisch, denn sie nannten ein Szenario für ihre Brexit-Planung Armageddon. In diesem Weltuntergangs-Szenario einigen sich London und Brüssel auf keinen Austrittsvertrag, die Trennung im März 2019 erfolgt chaotisch. Der wichtige Importhafen Dover muss bereits nach einem Tag dicht machen, weil er mit den neuen Zollformalitäten überfordert ist. Nach einigen Tagen werden in Supermärkten in Cornwall und Schottland die Lebensmittel knapp. Auch Arzneien und Treibstoff gehen zur Neige.

Die Experten in den Ministerien entwarfen mehrere Szenarien, was bei einem Austritt ohne Vertrag passieren könnte. Seit die Sunday Times darüber berichtete, ist die Aufregung groß. Ein Sprecher von Premierministerin Theresa May versicherte aber, dass der Weltuntergang nicht stattfinden werde. Wie beruhigend. Schließlich bereite sich die Regierung sehr sorgfältig auf einen Brexit ohne Abkommen vor. Und im Übrigen gehe London ohnehin fest davon aus, mit Brüssel eine gute Regelung finden zu können, sagte er.

Dafür allerdings müssen sich Kabinett und konservative Regierungsfraktion erst selbst darauf einigen, welchen Brexit sie anstreben. Auf der einen Seite stehen Europa-Freunde, die eine möglichst enge Anbindung wollen und dafür auf einige Freiheiten verzichten würden. Auf der anderen Seite verlangen Brexit-Enthusiasten ein Höchstmaß an Unabhängigkeit. Nachteile im Handel mit dem wichtigsten Exportmarkt, der übrigen EU, gelten da als vertretbarer Preis für den großen Traum.

Am Montag präsentierte ein Londoner Forschungsinstitut, das dem Brexit-Lager nahe steht, einen Kompromiss: Großbritannien solle sich weiter an Brüsseler Standards für Güter halten, schlägt Open Europe vor. Dann muss das Königreich zwar Regeln akzeptieren, auf die es keinen Einfluss mehr hat, doch dafür - so die Hoffnung - könnten britische Produkte weiter in der EU verkauft werden, ohne dass neue Genehmigungen und Tests nötig wären. Brüssel würde den britischen Aufsichtsbehörden vertrauen, und die Unternehmer würden von teurer Bürokratie verschont.

Die Bank of England will nicht an Brüsseler Vorgaben gebunden sein

Von EU-Vorgaben abzuweichen, würde hingegen "die Wettbewerbsfähigkeit untergraben", sagt Open-Europe-Vorsitzender Simon Wolfson, der konservatives Mitglied im Oberhaus ist. Für Brexit-Rechtgläubige ist derartiger Pragmatismus schwer zu akzeptieren. Sie argumentieren, dass vermeintlich unnütze Regeln ungewählter EU-Beamter die Firmen behindern. Der Austritt soll demnach die Befreiung von der Brüsseler Zwangsjacke sein.

Um diesem Lager entgegenzukommen, will Wolfson die Bindung an Brüssel auf Märkte für Produkte beschränken. Bei Dienstleistungen, etwa in der wichtigen Finanzbranche, soll London nach dem Brexit eigene Regeln setzen. Die Bank of England, die britische Notenbank, wird das gerne hören. Die Währungshüter, die auch für die Bankenaufsicht zuständig sind, streiten mit Schatzkanzler Philip Hammond über die beste Form der Zusammenarbeit mit Brüssel. Die Financial Times berichtet, die Notenbanker wollten an möglichst wenige EU-Vorgaben gebunden sein. Hammond hingegen ziehe eine engere Anbindung an Brüssel vor, wenn im Gegenzug die Banken weiterhin ohne ernste Probleme Kunden auf dem Festland betreuen können.

Auch den CBI, den größten Wirtschaftsverband im Königreich, treibt die Frage um, ob sich das Land weiter an EU-Regeln halten soll oder nicht. Die Lobbyisten holten dafür die Meinung Tausender Unternehmen in verschiedenen Branchen ein. Ergebnis: Die allermeisten Manager sehen kaum Vorteile darin, Brüsseler Vorgaben abzuschaffen, befürchten aber erhebliche Nachteile für Geschäfte mit dem Festland. Im vergangenen Jahr gingen 44,3 Prozent der britischen Exporte an Gütern und Dienstleistungen in andere EU-Staaten.

Dass Handel über Grenzen in der EU so einfach ist, liegt jedoch nicht nur an gemeinsamen Standards, am Prinzip des Binnenmarktes. Die EU ist außerdem eine Zollunion. Es gibt keine deutschen oder französischen Zollsätze - zum Beispiel für Importe brasilianischen Rindfleischs -, sondern nur den einheitlichen EU-Zoll. Für Handelsverträge mit anderen Staaten ist Brüssel zuständig. Premierministerin May hat sich festgelegt, keine Zollunion mit der EU anzustreben, weil Großbritannien ansonsten weder eigene Handelsverträge abschließen noch Zollsätze senken könnte. Aber ohne Zollunion müssten Grenzer wieder die Ladung von Lastwagen in Calais und Dover kontrollieren, zumindest stichprobenartig. Unternehmer müssten Zollpapiere ausfüllen.

Um das zu vermeiden, will May eine innovative Zollpartnerschaft abschließen, ein nirgendwo erprobtes Modell, das die Vorteile einer Zollunion ohne deren Nachteile bieten soll. EU-Vertreter halten das freilich für unrealistisch, für Wunschdenken. Der Brexit könnte den Unternehmern Ihrer Majestät also einiges an Bürokratie bescheren.

© SZ vom 05.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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