Modeindustrie:Schluss mit dem Schlussverkauf

Lesezeit: 5 min

Wer früher eine bestimmte Bluse unbedingt haben wollte, durfte nicht auf den Sale warten – heute findet man fast jedes Teil später günstiger im Internet. Gucci allerdings gibt nie etwas billiger her. (Foto: Scott McIntyre/Bloomberg)

Midseason Sale, Black Friday, zehn Prozent auf alles - Boutiquen und Online-Verkäufer haben ihre Kunden zu Schnäppchenjägern erzogen. Viele Labels würden das gerne wieder ändern.

Von Silke Wichert

Neulich wurde in der Modewelt dieses unschöne Gerücht verbreitet, der große Hype um das Label Vetements sei allmählich vorbei. Die Kunden, hieß es aus geheimen Quellen, hätten keine Lust mehr auf die ewigen Logo-Hoodies und DHL-T-Shirts. "Stimmt gar nicht!", meldete sich daraufhin ein Dutzend aufgeregte Händler zu Wort. Genau das Gegenteil sei der Fall. Die Sachen verkauften sich nach wie vor irre gut, und zwar, Obacht: "zum vollen Preis!"

Das saß - und war der eigentliche Nachrichtenwert dieser Posse. Während es früher schlicht normal war, dass Ware zum normalen Preis über den Ladentisch ging, scheint "full-price" mittlerweile eine Art seltenes Qualitätsmerkmal geworden zu sein. Nicht mehr die Regel, sondern die glorreiche Ausnahme, die nur noch die wirklich angesagten Labels erreichen. Was umgekehrt dann wohl bedeutet: Rabatte sind der neue Standard.

Nahkampf im Handel
:Der bizarre Streit um den Black Friday

Am Black Friday liefern sich die Amerikaner eine riesige Rabattschlacht im Handel. Das Phänomen schwappt auch nach Deutschland über. Im Hintergrund tobt ein erbitterter Kampf um die Rechte an der Marke.

Von Valentin Dornis

Laut dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes geben 94 Prozent der Frauen an, Kleidung nur noch selten zum vollen Preis zu kaufen, was ungefähr der Bereitschaft von 16-Jährigen entspricht, nachts an roten Fußgängerampeln stehen zu bleiben. Für Modehändler sind das verheerende Zustände, die in Amerika besonders verbreitet sein mögen, aber auch in Europa spürbar sind. "Wir haben uns die Leute ein bisschen verzogen", sagt Florian Braun, Inhaber der Departmentstores Unger und Uzwei in Hamburg. Die Zahl derer, die sich für Luxusmode interessieren, sei insgesamt größer geworden, beobachtet er, aber genauso die "Problemgruppe". Die, die immer schauen, ob sie etwas nicht doch günstiger bekommen. Was am Anfang der Saison auf Preisschilder gedruckt wird, ist für viele Kunden nur noch eine Art Orientierungsgröße für das, was sie hoffen, irgendwann tatsächlich dafür zu bezahlen. - 30, - 50 oder, Jackpot: - 70 Prozent?

"Midseason-Sale", das punktuelle Reduzieren in der Mitte der Saison und nicht mehr wie beim traditionellen Schlussverkauf am Ende des Winters und Sommers, "Black Friday" als Startschuss für besinnungslose Schnäppchenjagd einen Tag nach Thanksgiving, kurz darauf dieser "Cyber Monday" - all das wird neben dem klassischen Sale auch in Deutschland zunehmend normal. Die Händler müssen sich ja etwas einfallen lassen, um die Leute noch in die Läden zu locken. Die Gewinne in der Modebranche sind im Vergleich zu früher eher bescheiden. Und die Frage lautet allmählich: trotz oder vielleicht auch ein bisschen wegen der vielen Sonderaktionen?

Angefangen hat der Trend vor gut zehn Jahren als Folge der Finanzkrise. Die Taktik funktionierte - nur nicht ganz so wie gedacht. Mit dem Anfüttern hofften die Einzelhändler, die Kunden würden das vermeintlich Gesparte dann sofort in noch mehr Ware investieren. Stattdessen wurden sie wie Labormäuse darauf konditioniert, nur noch zuzuschlagen, wenn etwas reduziert war. Als die amerikanische Tradition "Black Friday" 2014 erstmals in England angekündigt wurde, fielen die Umsätze in den Wochen zuvor im Vergleich deutlich schlechter aus.

Der "schwarze Freitag" war zwar ein Erfolg. Aber mit dieser einen kurzfristigen Aktion verhagelten sich viele Shops das wichtige Weihnachtsgeschäft. Wer ist schon so blöd und kauft eine Woche vorher, was in der Woche danach im Angebot sein wird? Laut einer Studie der Unternehmensberatung Accenture Retail Strategy wurden Luxus- wie kommerzielle Marken vor gut zehn Jahren in Europa noch 65 bis 80 Prozent ihrer Ware zum regulären Preis los. Mittlerweile liegt die Zahl deutlich darunter: Fast jedes zweite Teil wird mit Rabatt verkauft.

"Wir haben es mit einer ganz neuen Art Kunden zu tun", sagt der Konsumpsychologe Dimitrios Tsivrikos vom University College London. "Sie wissen viel mehr darüber, wie das Geschäft läuft - und wollen selbst ein Geschäft machen." Die Kundschaft ist über Social Media und das Web so gut informiert wie nie - auch darüber, wo und wann es Rabatte gibt. Früher musste man noch aufmerksam den Lokalteil studieren, heute bekommt man den "Sale Alarm" frei Haus. Bei Zalando gibt es schon mal 20-Euro-Gutscheine per Post, einzulösen bei der nächsten Bestellung, matchesfashion.com verschickt Newsletter mit der Aktion "bis zu - 300 Euro ab einem Warenwert von 1000 Euro", bei Net-a-porter erhalten Newsletter-Abonnenten zum Start der neuen Saison einen Rabattcode über zehn Prozent - "aber nur für kurze Zeit!" Irgendwo ist theoretisch immer Sale oder der nächste Deal nur einen Klick entfernt.

Seit Jahren ist immer wieder von Shopping als Droge die Rede, weil vor allem die Schnäppchenjagd Glückshormone im Gehirn freisetzt. Die Tendenz nehme eher noch zu, glaubt Tsivrikos. "Je numerischer und datengetriebener unsere Welt wird, desto mehr begreift der Konsument Einkaufen als Zahlenspiel. Jeder Kauf ist ein potenzieller Treffer, ständig hat man eine Art Ergebnistafel mit Punktestand im Kopf." Nicht nur die Verkäufer stehen im Wettstreit, mehr und mehr auch die Käufer - mit sich selbst. Der neueste Schauplatz: der Vintage-Markt. In Online-Secondhand-Stores stöbern Modebegeisterte nach alten Schätzen, die sie womöglich für einen Bruchteil des Originalpreises bekommen. Bei manchen Anbietern kann man den privaten Verkäufern wie auf dem Basar ein Gegenangebot unterbreiten, das - wenn es akzeptiert wird - sich anfühlt wie ein kleiner Börsencoup.

Die Bedingungen haben sich in den vergangenen Jahren fast überall zugunsten der Käufer verschoben, auch was den längeren Atem angeht. Früher war klar: Wenn ich diese Bluse in der Boutique meines Vertrauens jetzt nicht kaufe, ist sie womöglich bald vergriffen. Auf den Schlussverkauf warten? Viel zu hohes Risiko. Heute dagegen findet man das begehrte Teil mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit auch im Sale noch in irgendeiner Online-Boutique auf der Welt; oder nächste Saison im Secondhand. Online-Shopping ist wie Pokern mit mehr Assen im Ärmel.

Was also nennen ein Viertel der Entscheider in der Modebranche als eine der Top-Prioritäten für 2018? "Mehr Vollzahler, bitte!" Laut der Branchenseite Business of Fashion, die jedes Jahr zusammen mit der Unternehmensberatung McKinsey eine groß angelegte Umfrage unter Führungskräften veröffentlicht, ist der Markenaufbau oberstes Ziel - vor allem, um den "full-price sell-through" zu steigern, den Abverkauf zum regulären Preis. Schließlich macht eine Marke wie Céline, Michael Kors oder Maje ein deutlich schlechteres Geschäft, wenn sie auf ein Teil 50 Prozent Rabatt gewährt. Die Ware ständig zu verschleudern, zusätzlich etwa in Outlet-Dörfern am Stadtrand, ramponiert auf Dauer außerdem das Luxus-Image. Noch härter ist die Abwärtsspirale für den klassischen Einzelhändler, der die Ware nicht herstellt, sondern als Zwischenhändler weiterverkauft. Zwar schlagen Boutiquen traditionell etwa das 2,5-Fache auf den Einkaufspreis, aber wenn sie dann um die Hälfte und mehr reduzieren, machen sie mit Miet- und Personalkosten eher Verlust statt Gewinn.

Viele Händler gehen dazu über, bestimmte Kleidungsstücke gar nicht mehr zu reduzieren

Nur: Wie erzieht man die verzogenen Kunden wieder um? Gucci ging den radikalen Weg: "No sale, never". Als der neue Designer Alessandro Michele 2015 bei dem Modehaus anfing, strichen sie den Schlussverkauf kurzerhand. So wie auch Chanel, Hermès und Louis Vuitton ihre Ware grundsätzlich nicht reduzieren. Da können die Kunden noch so lange warten, wer etwas aus der aktuellen Kollektion unbedingt besitzen möchte, muss den vollen Preis zahlen. Im Fall von Gucci half natürlich, dass die Begehrlichkeit der Marke mit Michele in die Höhe schoß. Da kann man sich eine Nullrunde viel eher erlauben.

Die großen Kaufhäuser haben es auch hier schwerer. "Mittlerweile verbringe ich einen Großteil meiner Zeit mit der Frage: Wie verkaufen wir zum vollen Preis?", sagt Florian Braun von Unger. Tolles Ambiente und gute Verkäufer helfen, zumal Unger im Norden eine Institution ist, aber das reiche nicht. Ein gutes Mittel sei, Marken möglichst exklusiv anzubieten. Céline, Dior, die Ready-to-wear von Chloé gibt es zukünftig in Hamburg nur bei ihnen am Neuen Wall. Diese Labels verbieten ihren Partnern grundsätzlich Spielereien wie zum Beispiel den Midseason-Sale. Auch wann und welche Teile der Kollektion in den Schlussverkauf gehen, wird für alle Läden von oben geregelt. "Früher hat die Einzelhändler diese Kontrolle genervt, jetzt sind die meisten heilfroh", sagt Braun. Viele Händler gehen auch dazu über, bestimmte saisonlose Mäntel oder Taschen gar nicht mehr zu reduzieren. Irgendwann gewöhnt sich der Kunde wieder daran.

Auch sogenannte Drops, wie sie Streetwearbrands wie Supreme pflegen, könnte man übernehmen: Immer mal wieder "tropft" eine limitierte Zahl von Ware in bestimmte Läden. Unger hatte kürzlich 80 Vorreservierungen für den "Triple S" von Balenciaga, diesen Turnschuh mit der seltsam wulstigen Sohle. Geliefert wurden drei Paar. Dann noch mal neun. Das alte Mittel der Verknappung funktioniert immer noch, Tropfen auf heiße Steine - allerdings muss die Marke dafür wirklich nah am Siedepunkt sein. Letztlich sei das momentane Grundproblem der Mode, dass es von allem zu viel gibt, meint Braun. "Zu viele Marken, die alle wachsen wollen und zu viel Ware an zu viele Läden vertreiben." Höchste Zeit zu reduzieren.

© SZ vom 21.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Mode und Instagram
:Die neue Oberkörperoffensive

Auffällige Brillen, Flechtfrisuren, Logos am Kragen: Mit dem Selfie-Kult hat sich auch der Fokus der Modeindustrie nach oben verschoben.

Von Dennis Braatz und Silke Wichert

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: