Minimalistisches Design:Zwanghafte Coolness

Lesezeit: 2 min

Wo hört die Liebe zu minimalistischem Design auf und wo fängt die Zwangsstörung an? Wir haben den Sinn für Narben, Schrunden und die Zeichen der Vergänglichkeit verloren - leider. Weg mit den Filzuntersetzern und rein ins Leben!

Oliver Herwig

Neulich hatten wir Gäste. Nichts Aufwendiges, nur drei Gänge. Und als nach der Begrüßungsrunde portugiesischer Rotwein anstand, schob ich unauffällig graue Filzsets unter die Gläser. Der Tisch, geölte Eiche, sollte keinesfalls leiden. Meine Frau schickte einen genervten Blick über die Tafel: wie piefig. Ich schenkte nach. Design ist eine saubere Sache. Anfangs jedenfalls. Da steht ein Tisch mit schlanken Füßen und schwebender Platte, und schon droht Gefahr. Wir wischen und schrubben. Und unsere Tochter klatscht seelenruhig Joghurt drauf, schmiert Butterbrote über den halben Tisch und bunte Ladungen Gemüse, und ich gehe in die Luft, weil sich das Designstück in den Ecktisch eines Bierstüberls verwandelt. Offenbar geht es auch anderen so. Zum Beispiel dem britischen Architekturkritiker Will Wiles, der sein Unbehagen an perfekter Gestaltung und immer aufwendigerer Pflege gerade im Roman "Care of Wooden Floors" (Harper Press. 16,99 Euro) amüsant verarbeitete.

Klare Formen, kühles Design: Viele mögen es auch zu Hause schnörkellos - und ohne Kratzer oder Krümel. (Archivbild von der Kölner Möbelmesse IMM 2010) (Foto: REUTERS)

Das wirft nun einige Fragen auf: Wollen wir wirklich in einer perfekten, aseptischen Umwelt leben? Warum sind wir keine Japaner, die im sichtbaren Verfall der Dinge Schönheit erkennen? Offenbar fehlt in einer Zivilisation, die ein Raumspray "Neues Auto" kennt und dem Apple-Design huldigt, der Sinn für Narben, Schrunden, die Zeichen der Vergänglichkeit und des Alterns. Minimalistisches Design kommt ja nicht vom Mond, es reagiert auf eine große Verunsicherung. Je schmutziger die Welt um uns herum, desto reiner tritt es auf. Chrom, Glas und harte Kanten sind die Insignien seiner Weltsicht. Spritschleudern präsentieren sich auf Automessen blütenweiß, und auf dem Beifahrersitz summt das reinweiße Notebook, als wäre es völlig unschuldig am Klimawandel.

Kein Wunder, dass wir im Badschrank Putzmittel stapeln, wenn Design-Journale und Hollywood-Filme Wohnungen feiern, in denen offenbar niemand lebt. Zumindest auf den ersten Blick. Aufgeräumt klingt hier wie ein Euphemismus. Kein Krümel oder Knautsch auf dem Sofa, kein Staub darunter. Stühle vor dem Esstisch stehen in Reih und Glied. Bücher oder Zeitungen liegen überhaupt nicht herum, und wenn, dann perfekt drapiert oder als farblicher Kontrapunkt zur Tapete inszeniert. Design ist Teil dieser Show, hier ein sorgfältig platziertes Stück, dort ein Hauch von Nichts.

Haltung mit Nähe zum Pathologischen

Minimalismus im Design ist keine Mode, sondern eine Einstellung. Wie nah sie am Pathologischen liegt, wurde bislang nicht untersucht. Dabei gibt es Tonnen von Studien zum Thema Zwangsstörungen, bei denen Menschen dauernd vermeintlichen Müll entsorgen oder dauerduschen, um sich vom Dreck und Chaos reinzuwaschen, der sie umgibt. Der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen zufolge müssen in Deutschland eine Million Menschen "zwanghaft waschen, putzen, kontrollieren, sammeln, ordnen und zählen". Wie viele Design-Afficionados sind, lässt sich nur vermuten. Ein Verdacht bleibt: Besteht gar ein Zusammenhang zwischen Minimalismus und Ordnungszwang?

Nie war unser Leben sauberer, nie unser Design cooler. Dabei hält gute Gestaltung was aus. Dinge wurden nicht für eine Ausstellung geschaffen, sondern für die Welt da draußen. Wohnen wie geschleckt, das ist sowieso Vergangenheit, sobald aus der Zweierbeziehung eine Familie wächst. Jetzt werden Tische abgeschleckt, malträtiert und bemalt. Jeder Rotweinfleck erzählt eine Geschichte, so wie jeder Kratzer und jede Narbe in der Oberfläche. Sie sind Zeugen von Glücksmomenten, die in der spontanen Durchbrechung von Perfektion liegen. Das ist doch eigentlich, wonach wir alle suchen: die eine, die gute Geschichte, die wir wieder und wieder erzählen. Wenn Design dabei hilft, ist schon einiges gewonnen. Also weg mit den grauen Filzuntersetzern. Und rein ins Leben.

© SZ vom 11.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: