Zweite Fußball-Bundesliga:Schreie wie von Sinnen

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Der TSV 1860 regt sich nach dem 1:2 in Duisburg über eine folgenschwere Schiedsrichter-Entscheidung auf. Durch die Niederlage fallen die Münchner auf den vorletzten Tabellenplatz zurück.

Von Ulrich Hartmann

Romuald Lacazette schrie dem Schiedsrichter Thorben Siewer aus etwa zwei Metern ins Gesicht. Er brüllte wie ein Wahnsinniger durch den Kabinentrakt des Duisburger Stadions. Man hätte nicht ausschließen können, dass der 22 Jahre alte Franzose dem Unparteiischen auch noch an den Kragen gegangen wäre, wenn Oliver Kreuzer ihn nicht zurückgehalten hätte. Der Sportdirektor des TSV 1860 München hielt seinen Mittelfeldmann von einer Dummheit ab, aber dass diesen das vor eine Strafe bewahrt, ist zweifelhaft. Als Lacazette sich wieder beruhigt hatte, ging Kreuzer in die Schiedsrichter-Kabine, aus der dann auch seine Schreie zu hören waren.

Die Münchner waren wie von Sinnen nach dem 1:2 am Freitagabend beim MSV Duisburg, weil sie eine Führung verspielt hatten und jetzt Vorletzter sind in der zweiten Fußball-Bundesliga. Vor allem aber, weil sie nicht glauben konnten, dass Duisburgs Tor zum 1:1 wirklich regulär gewesen war. Dass sie die letzten zehn Minuten nach einer zweifelhaften gelb-roten Karte für Milos Degenek bloß noch zu zehnt waren und in dieser Phase das 1:2 kassierten, verstärkte ihre Wut nur noch.

"In einem so kapital wichtigen Spiel eine so zweifelhafte Entscheidung zu treffen - und ich behaupte, weder der Linienrichter noch der Schiedsrichter haben zu 100 Prozent erkennen können, ob der Ball wirklich drin war - das ist für mich ein Skandal", sagte Kreuzer. Er habe dem Schiedsrichter in der Kabine gesagt, dass er für ihn hoffe, dass der Ball wirklich drin war. Siewer habe geantwortet: "Herr Kreuzer, nicht in diesem Ton!" Ob Lacazette eine Strafe zu befürchten hat, mochte Kreuzer nicht beurteilen. "Er hat ja Französisch gesprochen, Herr Siewer hat ihn bestimmt nicht verstanden - vielleicht hat er ihm ja bloß ein Kompliment gemacht", sagte Kreuzer sarkastisch.

Der erste Schock des Abends hatte die "Löwen" bereits vor dem Anpfiff ereilt: Kapitän Christopher Schindler klagte beim Aufwärmen über Übelkeit, für ihn lief kurzfristig Daniel Adlung auf, Kai Bülow rückte aus dem Mittelfeld in die Innenverteidigung. Das Kellerduell zwischen dem MSV Duisburg und 1860 war danach eine Stunde lang eine quälende Angelegenheit. 20 Feldspieler bewegten sich über den Rasen, als hätte man ihnen kiloschwere Gewichte in die Trikots eingenäht. Und genau so, berichten Fußballer abstiegsgefährdeter Teams immer wieder, fühlt sich Fußball im Tabellenkeller ja auch an: mit bleischweren Beinen jagen Athleten voller Selbstzweifel einem Ball hinterher, mit dem sie nichts anzufangen wissen, wenn sie ihn denn mal haben. In der 32. Minute tobte Möhlmann am Spielfeldrand, er schrie und gestikulierte wüst in Richtung seiner Mittelfeldspieler, aber niemand schien sich angesprochen zu fühlen. Tor- und freudlos endete die erste Halbzeit.

Erst nach der 60. Minute wurde das schlimme Fußballspiel zu einem der größten Aufreger dieser Saison. Mit einem Traumtor aus 20 Metern in den Winkel brachte Michael Liendl die Münchner in der 64. Minute in Führung. Doch mit diesem Traumtor begann für die Münchner ein Alptraum. Denn mit einem zweifelhaften Tor kamen die Duisburger in der 73. Minute zum 1:1. Der gerade eingewechselte Thomas Bröker köpfelte eine Flanke an den Innenpfosten, Torwart Stefan Ortega boxte den abprallenden Ball von der Linie, Schiedsrichter Siewer entschied zum Entsetzen der Löwen auf Tor. Er beriet sich noch einmal mit seinem Assistenten, blieb aber bei der Entscheidung. "Wie sollen die beiden das sehen aus ihrer Perspektive?", fragte Ortega: "Bei aller Liebe, das konnten die nicht sehen. Der war nicht drin, es ist mir ein Rätsel, wie man da auf Tor entscheiden kann." Keine Zeitlupe konnte klären, ob der Ball die Torlinie wirklich vollständig überquert hatte. "Sobald es um Existenzen geht, kommt man zu der Ansicht, dass man sich die paar Euro nicht hätte sparen sollen", sagte Löwen-Trainer Benno Möhlmann nachher über die Entscheidung der Zweitligaklubs, anders als die Erstligisten auf die Torlinienkamera zu verzichten, das "Hawk-Eye".

Das ganz große Unglück, die schmerzliche Niederlage beim Tabellenletzten, ereilte die Münchner dann in der Schlussphase. Nach einem Zusammenprall mit Duisburgs Kevin Wolze wurde Rechtsverteidiger Degenek in der 80. Minute des Feldes verwiesen; fünf Minuten vor Schluss sahen die Sechziger dann hilf- und tatenlos zu, wie Duisburgs Victor Obinna seinen MSV ins Glück schoss. Einen Abpraller durfte Obinna im Strafraum ungestört aufs Tor schießen - und Daylon Claasen lenkte diesen Hüpfball, statt ihn blocken zu können, ungelenk ins eigene Netz. "Ärgerlich", sagte Möhlmann nachher betont ruhig. "Unglaublich, unfassbar, skandalös", schimpfte hingegen Sportchef Kreuzer über eine Niederlage, die die Münchner in Duisburg ins Herz getroffen hat.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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