Wimbledon:Wo Federer den Bückling macht

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Roger Federer verlor im letzten Jahr das Wimbledon-Finale gegen Novak Djokovic. (Foto: Julian Finney/Getty Images)

Andy Murray schwärmt von unglaublicher Stille, Boris Becker probte hier die Mondlandung, der Rekordsieger geht in die Knie. Zum Beginn des berühmtesten Turniers der Welt: Wimbledon von A-Z.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Zum 130. Mal finden in diesem Jahr die Wimbledon Championships statt (27. Juni bis 10. Juli) . Das dritte von vier Grand-Slam-Turnieren ist die speziellste, renommierteste Veranstaltung im Tennis. Man kann sich das Ganze wie eine Oscarverleihung, gepaart mit den Grammy Awards und der Nobelpreisüberreichung, vorstellen - nur etwas spektakulärer vielleicht. Das Wichtigste aus diesem Anlass von A bis Z, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

A - Auslosung: Es gibt keinen Konfettiregen, keine Ex-Spieler oder Ex-Spielerinnen verwandeln sich in Los-Feen. Ein Computer übernimmt das Prozedere. Fand am Freitag vor Turnierstart statt. Beginn 10 Uhr, und kurz darauf war alles schon vorbei. Herrlich effektiv.

B - Boris Becker: Gewann drei Mal, sein erster Triumph 1985 als 17-jähriger Jung-Siegfried mit roten Haaren war die deutsche Mondlandung. Hat Becker selbst so gesagt. Der Center Court ist sein Wohnzimmer. Hat er auch so gesagt. Heute trainiert Becker den Weltranglisten-Ersten und Titelverteidiger Novak Djokovic aus Serbien. Gibt keinen besseren Wimbledondeuter als ihn. Deshalb liebt ihn die BBC.

C - Church Road: die berühmteste Straße Englands während des Turniers. Erschließt sich allein schon aus der Anschrift des Turniers - Church Road, Wimbledon, London SW19 5AE.

D - Debentures: Die Anleihen, alle fünf Jahre aufgelegt, ermöglichen es der All England Lawn Tennis Ground Gesellschaft, die die Anlage besitzt, Geld einzutreiben. Geld, das nicht zum Zocken verwendet, sondern in Umbauten und Renovierungen investiert wird. 2016 wurden 2500 Anteile offeriert, deren Erlöse für den Center Court verwendet werden. 50 000 Pfund musste man locker machen. Dafür gibt's Kartengarantien für einen Platz auf dem Hauptplatz.

E - Entry List: Wer es schafft, in Wimbledon auf einer der Listen zu stehen, die alle teilnahmeberechtigten Spieler benennen, hat sein Leben lang etwas zu erzählen. Anders als etwa beim Masters im Golf, das ein Einladungsturnier ist und Einladungen verschickt, macht Wimbledon kein Remmidemmi um die Entry List. Wer sich qualifiziert, ist qualifiziert. Herrlich transparent.

F - Fred Perry Statue: Wer nach Wimbledon fährt, stellt sich vor die Fred Perry Statue. So beweist man Tennissachverstand. Perry war in den Dreißigerjahren einer der besten Spieler der Welt und siegte dreimal in Wimbledon (zweimal im Finale gegen Gottfried von Cramm). Seine Statue steht rechts bei Gate 5, gleich hinter dem Center Court.

G - Geräusche: Sind hier anders. Der Klub klingt nicht nach Klub, Tennis nicht nach Tennis. Die Anlage klingt nach royalem Picknick im Grünen. Fröhlich-distinguiert. Andy Murray, schottischer Wimbledonsieger 2013, sagte jüngst in einem PR-Filmchen über Wimbledon: "Der Center Court ist nicht immer der lauteste, aber er fühlt sich am lautesten an - weil die Stille, wenn du spielst, so unglaublich ist. Die Zuschauer machen nicht ein einziges Geräusch, wenn du deine Punkte spielst. Die Stille hat eine unglaubliche Intensität."

H - Hawk: Rufus ist ein Wüstenbussard ("Harris Hawk"), der so trainiert wurde, dass er über der Anlage seine Runden fliegt und Tauben verjagt. Macht einen echt guten Job. Malus: Hat nach SZ-Informationen für Brexit gestimmt. 2012 gab es mal ein bisschen Aufregung, weil Rufus selbst den Exit machte - und verschwand. War dann aber wieder da und alles gut. Rufus hat eine angenehme Arbeitsschicht. Morgens so um 9 Uhr hebt er ab. Wenn die Spiele später beginnen, kann er sich entspannen.

I - Isner: Der amerikanische Profi John Isner hat mit dem Franzosen Nicolas Mahut Tennisgeschichte geschrieben. 2010 duellierten sich die beiden auf Court 18, ein schöner Nebenplatz mit ein paar Tribünenplätzen. Die Partie ging über drei Tage, dauerte 11:05 Stunden und benötigte 123 Bälle. Die ersten vier Sätze endeten 6:4, 3:6, 6:7, 7:6 aus Sicht von Isner, der den fünften und entscheidenden Satz gewann - mit 70:68. Ein Schild mit Gravur erinnert heute noch an dieses unvergleichliche Match.

J - Jahr 2003: Damals verfügte der Duke of Kent, zugleich Klub-Präsident, dass die Spieler sich nicht mehr vor Mitgliedern des Königshauses, die in der Royal Box sitzen, verbeugen müssen. Ausnahme: Bei der Queen und dem Prinz of Wales wird sich noch verbeugt. 2012 schaute Prinz Charles auf einen Sprung vorbei, und Roger Federer wurde gebeten, den Bückling zu machen. "No problem", sagte Federer.

K - Kleiderordnung: Herrliches Thema. Mit einer richtigen Geschichte. 1963 wurde bestimmt, dass die Spielkleidungsfarbe vorherrschend weiß sei. 1995 wurde diese Regel verschärft, in "fast ganz in Weiß". Jeder weiß Bescheid, doch trotzdem gibt es jedes Jahr kleine Debatten, die ganz groß werden. Eugenie Bouchard, Finalistin 2014, hat 2015 einen schwarzen BH getragen. Kam nicht gut an beim Schiedsrichter, gab eine Verwarnung. Man kann Wimbledon nicht austricksen, die sind auf Zack. Auch auf die Farben der Socken, Stirnbänder und Schuhe gilt es zu achten. Aufreger diesmal vorab: Ein Einkleider hat seine Kollektion, die bereits an Spieler ausgehändigt worden war, zurückgerufen. Man sah zu viel Haut. Kostenlos wurden Röckchen und Shirts verlängert bzw. in der längeren Variante wieder verteilt.

L - Lohn: Wimbledon lohnt sich für die Teilnehmer. Das Preisgeld wird gerne jedes Jahr angehoben. Man will der Welt zeigen, dass man das beste Turnier ist. Und die Spieler als Hauptakteure entsprechend entlohnen. Hat Wimbledon-Chef Philip Brook letztes Jahr der SZ verraten. Diesmal beträgt der Anstieg fünf Prozent. 28,1 Millionen Pfund werden verteilt. Männer und Frauen erhalten das Gleiche. Schon Erstrundenverlierer nehmen 30 000 Pfund mit.

M - Medien: Mehr als 3300 Medienmenschen werden stets akkreditiert. 600 schreiben für die Presse, knapp 2500 arbeiten fürs Fernsehen und den Hörfunk, 200 Fotografen liefern Fotos.

N - Non Ticket Holders' Entrance: Die berühmte Queue endet an Gate 3, dem Eingangstor 3. Natürlich erhält man nicht einfach im Glücksfall sein Ticket und sprintet los. Ehrenamtliche Helfer halten ein Seil, hinter dem sich die erste Reihe der Tageskartenkäufer befindet. Dann marschieren sie alle gemächlich wie Wanderer auf dem Jakobsweg los, bis sich alle mehr und mehr verteilt haben auf der Anlage. Rennen ist verboten. Gibt sonst Ärger.

O - Official Supplier: Auffallend ist, dass die Plätze nicht mit Werbebanden zugeballert sind. Auch deshalb wirkt dieses Turnier reiner, authentischer. Geworben wird trotzdem. Wer sich Official Supplier nennen darf, ist stolz. Die Offiziellen Unterstützer sind auch eine Art furchtbar elitärer Klub, und ob ihr Engagement den Absatz eigener Produkte fördert, ist unklar. Klar ist: Wer drin ist, will nicht raus. Die längste Partnerschaft besteht mit der Ballmarke Slazenger. Sie begann 1902. Damit ist diese Allianz die längste auf diesem Gebiet im Sport. Für die, die kein Zeitgefühl haben: Damals wurde noch nicht mal getwittert.

P - Pimm's: Kultgetränk, das alkoholhaltig ist, was manchmal Besucher zu vergessen scheinen. 80 000 dieser würzigen Liköre auf Gin-Basis werden jedes Jahr getrunken. Fürs Wimbledon-Flair im Wohnzimmer - hier das Rezept zum Nachmixen: Ginger Ale, Pimm's Cup No. 1, eine Gurkenscheibe, eine Zitronenscheibe, eine Orangenscheibe, ein Minzzweig. Für die, die nicht gern mixen: geht auch ohne Minzzweig.

Q - The Queue: berühmteste Kartenanstehschlange der Welt. Hier hoffen Fans, die keine Tickets haben, noch welche kurzfristig zu bekommen. Dafür stehen sie langfristig an, meist über Nacht. Nachteil: Der Rücken schmerzt vom Stehen oder schlafen auf dem Boden, und die Zelte halten nicht immer den Regen ab. Vorteil: Die Stimmung ist Woodstock-like. Ohne Janis Joplin, aber mit viel peace. Strenge Regeln gibt es trotzdem. So dürfen die Kartenkäufer nur Taschen in den Maßen 40x30x30cm auf die Anlage mitnehmen. Also: abmessen!

R - Rasenlänge: nicht sieben Millimeter, nicht neun. Acht sind es. Und täglich wird nachgemäht. Wer sich einen Wimbledonplatz in den Garten bauen will: Die verwendete Sorte nennt sich Rye Grass - Weidelgras.

S - Strawberries: Die Erdbeeren sind das, was Bier auf dem Oktoberfest ist. Teuer, lecker, Pflicht. Und die Besucher kommen dieser Pflicht nach. Rund 28 000 Kilo werden jedes Jahr verputzt, dazu 7000 Liter Sahne. Die Sorte: Grade I Kent Strawberries. Werden erst am Vortag gepflückt, um Frische zu garantieren. Bei der Erdbeere kennt der Engländer keinen Spaß.

T - Trophäen: Der Sieger im Männer-Einzel erhält seit 1887 den Challenge Cup, die Siegerin seit 1886 die Ladies' Singles Plate. Beides optisch stilvoll, wenn auch nicht so pompös wie der Stanley Cup in der NHL. Pompös soll's hier eh nicht sein. Subversiv elitär reicht.

U - Unterkünfte: An keinem Turnierort mieten derart viele Spieler private Wohnungen an. Weil hier ganze Häuser angeboten werden, die viel Charme besitzen und in der Nähe sind, verzichten die Profis auf die sonst üblichen Edelhotels. Da längst auch Trainer, Betreuer und Familienangehörige so untergebracht werden, ist der Markt an frei verfügbaren und bezahlbaren Häusern überschaubar. Bed & Breakfast ist eine Alternative. Notfalls ziehen die Besitzer für zwei Wochen zu den Eltern aufs Land, um das Geschäft mitzunehmen.

V - Verkauf: Selbstverständlich wird viel Gedöns angeboten, was mit Wimbledon zu tun hat, und auch viel ansehnliche Sportkleidung. Kostet dementsprechend. Renner 2015: 19 500 Handtücher (Männer-Einzel-Kollektion) wurden gekauft. Und sonst: Tennisballschlüsselanhänger (11 830), Frauen-Einzel-Handtücher (9500), Zweierpack Schweißbänder (8352), Schläger-Schlüsselanhänger (7553).

W - Wetter: Ein herrliches Thema. Bietet stets Anlass zu Smalltalks. Warum, lässt sich an einer Statistik gut erkennen - in diesen Jahren nur gab es keine Regenunterbrechungen: 1922, 1931, 1976, 1977, 1993, 1995, 2009, 2010. Worüber man in jenen Jahren geredet hat, ist bis heute unklar. Das Wetter kann nicht das Thema gewesen sein. Gab ja keins.

X - das einzige X, das in Wimbledon eine Rolle spielt, steht an einem Wortende: Dieses Wort ist ein prächtiges USP (Alleinstellungsmerkmal): Royal Box. Hier, im elitärsten Zuschauerbereich der Sportwelt, sitzen nur Könige, Fürsten, Wirtschaftsgrößen, Schauspieler, Ex-Champions. Bewerbungen zwecklos. Man wird gefragt. Der beliebteste Gast in dem mit 74 Rattanstühlen bestuhlen Areal: die Queen natürlich. Viermal war sie da, 1957, 1962, 1977, 2010. Zur Tradition gehört jedes Jahr die Debatte: Kommt sie? Selbst wenn himmelweit klar ist, dass sie nicht kommt.

Y - Buchstabe in Wimbedounyng​: So hieß einst Wimbledon. Ist eine Weile her. Edgar hieß der König, der anno 967 ein Dokument abzeichnete, in dem von dem Dorf Wimbedounyng die Sprache war. Edgar wurde "der Friedfertige" genannt, was ihn nicht davon abhielt, Befehle zum Rummetzeln zu erteilen. Hat nichts mit dem Tennisturnier zu tun.

Z - Zuschauer: Auf der Anlage können sich auf einmal 39 000 Menschen aufhalten. Das geschieht nahezu täglich. Einer der stimmungsvollsten Orte ist der Henman Hill hinter Court No.1. Eigentlich heißt der Hügel Aorangi Terrace, aber als der Brite Tim Henman spielte (und trotz vier Halbfinals nie gewann) und wegen ihm die Fans Parties vor der riesigen Videoleinwand veranstalteten, hat sich der neue Name weitgehend eingebürgert. Am schönsten wird das Erlebnis mit einem Sandwich in der Hand und einem Pimm's in Griffweite.

© SZ vom 26.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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