US Open:Herzrasen

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Der Riese wankte - und dann fiel er: Der entkräftete Geheimfavorit Milos Raonic schied aus. (Foto: Alex Brandon/AP)

Krämpfe, Kollaps, Müdigkeit: Die Auswirkungen der Olympischen Spiele machen sich bei den US Open bemerkbar - allerdings schützt auch ein Verzicht auf Rio nicht vor einem besonders schmerzhaften Scheitern in New York.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es gibt ein Gesprächsthema, da werden sie bei den US Open sehr vorsichtig, sie sprechen nur nach prüfendem Blick über beide Schultern darüber. Es könnte ja sein, dass IOC-Chef Thomas Bach hinter einem der vielen Bäume auf der Tennisanlage in Flushing Meadows hervorhüpft, mit einer Olympia-Doktrin wedelt und dem Frevler höchstselbst eine Ohrfeige sowie eine Geldstrafe von 10 000 Dollar verpasst. Kritik an den Olympischen Spielen in Rio gilt hier als Sakrileg und wird in etwa so aufgenommen, als würde jemand behaupten, dass New York nicht der tollste Ort im ganzen Universum ist. Wer also "Rio" hört, der setzt sogleich zu einem Loblied auf die Stadt - immer mit dem Hinweis freilich, dass New York noch viel schöner sei - und diese wunderbare Veranstaltung vor wenigen Wochen an. Eröffnungsfeier! Atmosphäre! Olympisches Dorf! Hach!

Wenn der Blick über beide Schultern getätigt und auch kein Diktiergerät eingeschaltet ist, dann versichern einem jedoch selbst Olympia-Schwärmer, dass vielen Akteuren diese Reise nach Rio ungefähr so in den Kram passte wie ein Wadenkrampf im entscheidenden Satz. Dieses Turnier fand ohnehin zu einer für Tennisprofis äußerst ungünstigen Zeit statt, zwischen Wimbledon und der Hartplatzsaison in den USA, dann gab es all jene Probleme, über die nun offiziell niemand sprechen mag: Unterkunft! Verpflegung! Hygiene! Uff!

"Ich war nach Rio ziemlich fertig, körperlich und mental", gesteht Rafael Nadal ein

Die Auswirkungen der stressigen Spiele machen sich nun bei den US Open bemerkbar - und das nicht nur wegen der Erstrunden-Niederlage von Olympiasiegerin Monica Puig (Puerto Rico) und des Kollapses von Johanna Konta am Mittwoch, die in Rio in drei Wettbewerben angetreten war. "Ich habe hyperventiliert und zu zittern begonnen. Ich konnte kaum noch atmen und bemerkte, dass mein Herz zu rasen begann. Es fühlte sich an wie eine Panikattacke", sagte die Britin nach ihrem dramatischen Sieg gegen Swetana Pironkowa (Bulgarien) - und stellte klar, dass ein Einsatz in der dritten Runde am Freitag keineswegs gesichert sei. Sie müsse sehen, ob ihr Körper sich rechtzeitig erholen könne.

"Ich war nach Rio ziemlich fertig, körperlich und mental", sagte Rafael Nadal, der in Brasilien als Vierter ohne Medaille blieb, schon vor der Ankunft in New York: "Ich muss mein Handgelenk ausruhen, meinen Arm, einfach alles." Er gewann seine zweite Partie gegen Andreas Seppi (Italien) mit 6:0, 7:5, 6:1 und wurde wegen ca. vier Regentropfen der erste Spieler in der US-Open-Historie, der einen Ball bei geschlossenem Dach im Arthur Ashe Stadium servierte. Interessierte ihn aber kaum. "Ich bin total müde", sagte er: "Ich muss versuchen, dass sich mein Zustand mit jedem Tag verbessert. Weiter als bis zur nächsten Partie kann ich keinesfalls denken, alles andere wäre nicht gerechtfertigt."

Auch Angelique Kerber hatte nach ihrer Finalniederlage in der vergangenen Woche in Cincinnati angemerkt, müde und ausgelaugt zu sein: "Ich habe elf Matches innerhalb von zwei Wochen gespielt, das merkt man irgendwann." Man merkte es in der Zweitrundenpartie gegen Mirjana Lucic-Baroni vor allem im zweiten Satz, als die Weltranglistenzweite einen 4:1-Vorsprung herschenkte und beim 6:2, 7:6 (7) drei Satzbälle der Kroatin abwehren musste.

Zuvor hatte bereits Andy Murray angemerkt, dass vor allem ältere Spieler eine Pause bräuchten und dass die Turniere von Wimbledon bis zu den US Open eine extreme Belastung gewesen wären: "Man muss sich ein paar freie Tage gönnen, auch wenn man sich eigentlich auf die nächste große Veranstaltung vorbereiten möchte."

Es gibt zahlreiche Akteure, die sich aufgrund von Müdigkeit und nicht auskurierter Verletzungen - das Handgelenk von Murray, die Schulter von Serena Williams, der Fuß von Philipp Kohlschreiber - zu überlegen scheinen, was sie denn tun könnten, wenn das Zahnfleisch verschwunden ist, auf dem sie sich gerade über die Anlage schleppen. Das führt zur Frage, ob bei den US Open nicht jene Akteure im Vorteil sind, die auf eine Reise nach Rio verzichtet hatten, sei es wegen der Angst vor dem Zika-Virus (Milos Raonic, Simona Halep), wegen eines Streits mit dem Teamkapitän (Nick Kyrgios), wegen kleiner Verletzungen (Belinda Bencic, Alexander Zverev) - oder der Begründung, dass es in Rio keine Ranglistenpunkte zu verdienen gäbe (John Isner).

Natürlich wurden diese Akteure bereits bestraft - nicht von Thomas Bach, sondern vom inoffiziellen Rio-Maskottchen Martin Kaymer, der allen Daheimgebliebenen beinahe täglich fröhlich mitteilte, welch grandiose Erfahrung Olympia doch sei. Wer allerdings die Tennisprofis in New York fragt, ob die Olympia-Absager nun bei den US Open im Vorteil seien, der bekommt als offizielle Antwort meist ein vorsichtiges "Ich weiß es nicht" zu hören, nach zwei Schulterblicken kneifen viele die Augen zusammen und nicken. Ja, diese kleine Pause nach Wimbledon könne sich angesichts der schwülen Hitze von New York durchaus positiv bemerkbar machen.

"Ich war heute mein schlimmster Feind", sagt Milos Raonic nach seiner Niederlage

Freilich ist der Verzicht keine Garantie auf eine ausgeruhte Muskulatur oder ein Allheilmittel gegen Müdigkeit. Das musste der Kanadier Raonic am Mittwoch feststellen. Der wurde vor den US Open als aussichtsreichster Kandidat dafür gehandelt, ein Finale zwischen Andy Murray und Novak Djokovic zu verhindern, verlor jedoch gegen den Qualifikanten Ryan Harrison (USA) 7:6 (4), 5:7, 5:7, 1:6. "Ich war heute mein schlimmster Feind", sagte er danach. Er hatte nicht schlecht gespielt, wurde an diesem extrem feuchten Tag jedoch vom zweiten Durchgang an von schlimmen Krämpfen geplagt. Im Unterarm, an der Hüfte, im Rücken. Am Ende war er so erschöpft, dass er nicht mal mehr seine Tasche über die Schulter schwingen oder über beide Schultern blicken konnte.

© SZ vom 02.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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