Tour de France:Himmel und Hölle

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Marcel Kittel schöpft mit Platz drei Mut - einer seiner größten Widersacher dürfte sein ehemaliger Teamkollege Fernando Gaviria sein.

Von Johannes Knuth, La-Roche-sur-Yon

Marcel Kittel kam etwas später zum Stellplatz der Teambusse, ohne Helm, als habe er gerade eine nette Ausfahrt in die Renaissancestadt von Fontenay-le-Comte hinter sich. Er hatte noch in der Dopingkontrolle Wasser lassen müssen, und das war gar nicht so einfach gewesen nach dieser ersten Tour-Etappe am Samstag, nach der die Fahrer aussahen wie nach einem Wettbewerb, in dem der ausdauerstärkste Saunagänger ermittelt wurde. Die Busse waren längst weggebraust, ein paar Autogrammjäger warteten noch, dazu vier Zeugen Jehovas und ein Teamwagen mit laufendem Motor. Aber Kittel wirkte nicht so, als habe er es besonders eilig.

Der 30-Jährige erzählte entspannt, wie er seinen dritten Platz in die Bücher eingetragen hatte, in einem fiebrigen Finale in Fontenay. Er hatte sich auch beim Massenspurt Zeit gelassen, wollte auf der ansteigenden Zielgeraden seine Kraft etwas später zum Klingen bringen wie ein kraftvolles Crescendo - und dann noch an allen vorbeitrommeln, so hatte das im Vorjahr ja bestens geklappt. Diesmal also Platz drei, hinter Fernando Gaviria und dem Weltmeister Peter Sagan von der deutschen Bora-hansgrohe-Equipe, der dann am Sonntag den zweiten, noch kniffligeren Bergauf-Sprint in La-Roche gewann. "Am Ende", bilanzierte Kittel, "komme ich mit Power und Geschwindigkeit, das gibt mir Zuversicht." Was so eine Tour-Etappe ausmacht.

Kittel hat bislang eine schwierige Saison verlebt mit seinem neuen Arbeitgeber Katjuscha-Alpecin. Seine Anfahrer lenkten ihn nicht immer in die beste Position, und wenn sie es schafften, konnte Kittel die Vorlagen nicht immer verwerten. Der dritte Platz am Samstag kam als Mutmacher gerade recht - auch wenn Kittel am Sonntag kurz vor dem Ziel einen Defekt erlitt und nicht in den Sprint eingreifen konnte. Er verspüre wieder "ein Gefühl für das Feld und das Finale, wir sind hier absolut konkurrenzfähig", sagte Kittel. Er klang ein bisschen wie ein Architekt, der seinem Entwurf nicht ganz getraut hatte, nun aber von der Eleganz seines neuen Bauwerks überzeugt war. Katjuschas Sprintzug hatte auch am Samstag wieder ein bisschen gequietscht, "aber am Ende war eigentlich nur Quickstep mit genügend Leuten da. Da müssen wir hin", sagte Kittel. Dann fügte er an: "Das schaffen wir auch."

Seine erste Etappe bei der Tour de France – und gleich ein Sieg: Der 23-jährige Kolumbianer Fernando Gaviria setzt sich kurz vor dem Ziel in Fontenay-le-Comte ab. (Foto: Philippe Lopez/AFP)

Ein bisschen pikant war höchstens, dass besagte Equipe bis vor einem Jahr noch Kittel bei der Tour gedient hatte - und zum Auftakt nun demjenigen zum Tagessieg und ins Führungstrikot verhalf, der Kittel bei Quickstep ersetzt hat: Fernando Gaviria, 23, aus La Ceja in Kolumbien.

Gaviria ist eine Ausnahmeerscheinung in seiner stolzen Radsport-Heimat, die vor allem leichte Kletterer hervorgebracht hat (und viele Dopingaffären dazu). Er brachte seine Schnelligkeit zunächst auf der Bahn ein, schloss sich 2015 Quickstep und Patrick Léfèvre an. Neben manchen Dopinggerüchten, die er abstreitet, hängt dem Teamchef der Ruf an, junge Fahrer vorzüglich auszubilden und in eines der erfolgreichsten Teams der Neuzeit zu integrieren. Gaviria konnte sich in Ruhe entwickeln, erst mal war da ja noch Kittel, der im Winter 2015 zum Team gestoßen war. Doch spätestens im vergangenen Jahr, als Gaviria vier Etappen beim Giro gewann und Kittel fünf bei der Tour, war klar: Zwei derart begabte Sprinter, die sich 2018 um einen Platz bei der Tour balgen, das könnte einer zu viel sein.

Es war dann Kittel, der seinen auslaufenden Vertrag im Winter für einen Umzug nutzte. Er wollte nicht wieder kurz vor der Tour aus dem Aufgebot gejagt werden, wie es ihm 2015 in seinem damaligen Team widerfahren war. Katjuscha bot dem Deutschen die Planungssicherheit, die er suchte, doch als der Saisonstart misslang, schimpfte der ungeduldige Eigentümer Alexis Schoeb über "Anfängerfehler". Er dachte auch laut darüber nach, Kittel nach der Saison stärkere Helfer zur Seite zu stellen, sollte sich keine Besserung einstellen. Jeder Erfolg, den der Vorfahrer nun beschafft, ist nicht nur ein Signal nach außen, sondern auch nach innen.

Kittel und sein Nachfolger bei Quickstep, das könnte eines der interessanteren Duelle dieser 105. Tour werden. Gaviria bestritt am Samstag seine erste Tour-Etappe überhaupt, "hier sind schon die Zwischensprints völlig verrückt", stellte er später fest. Am Sonntag verhedderte er sich kurz vor dem Ziel dann in einen Sturz, blieb unverletzt, verlor das Gelbe Trikot aber prompt an Sagan. Doch Gaviria genießt noch immer den Vorteil des ersten Sprinterfolgs, und das hatte im Vorjahr schon Kittel weit in die Tour hinein beflügelt. Der ehemals Gejagte ist nun wieder ein Jäger, aber Kittel deutete diese Rolle am Wochenende halt zu seinen Gunsten um. "Das gibt einem ja auch diesen Kampfgeist", sagte er. Gaviria und seine Equipe seien erst mal "die Referenz, aber da wollen wir natürlich vorbeifahren".

Chris Froome (rechts) erlebte wie viele andere einen schwarzen Tag. In einer Linkskurve kam er vom Kurs ab, konnte aber schnell weiterfahren. (Foto: Jeff Pachoud/AFP)

Immerhin: Kittels Team hatte ihn am Samstag aus dem Gröbsten rausgehalten. Viele Kandidaten für das Gesamtklassement wurden in Stürze verwickelt oder erlitten Defekte, Nairo Quintana, Richie Porte, Christopher Froome. Der Titelverteidiger rauschte kopfüber auf eine Wiese, auch er blieb unverletzt, doch der Brite verlor bereits 51 Sekunden auf die Spitze und Widersacher wie Romain Bardet und Vincenzo Nibali. "Es ist absehbar, dass auf solch kleinen Straßen mit einem nervösen Feld einfach totaler Wahnsinn herrscht", sagte Kittel: "Man sollte den Rennfahrern vielleicht ein bisschen mehr Platz geben." Der chaotische Sonntag bestätigte seine Unfallanalyse. Kittels Landsmann John Degenkolb fand gar, Sagan habe ihm im Spurt regelwidrig den Weg abgeschnitten. Der Protest seines Teams verpuffte.

Am Montag erwartet das Peloton etwas weniger Wahnsinn, im Teamzeitfahren in Cholet. Dann folgt eine Woche voller Gemeinheiten durch Frankreichs Norden, die auf dem Kopfsteinpflaster in Roubaix endet. Sie nennen Roubaix übrigens "die Hölle des Nordens".

© SZ vom 09.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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