Tour de France:Erlösung auf dem Kopfsteinpflaster

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Nach vielen Rückschlägen sichert sich John Degenkolb auf der Etappe nach Roubaix den ersten Sieg. Damit endet eine turbulente Woche für die deutschen Radprofis.

Von Johannes Knuth, Roubaix/München

Manchmal reichen ein paar Stunden, reicht sogar nur ein flüchtiger Moment, um alles in ein anderes, wärmeres Licht zu tauchen. Am Sonntag waren es knapp 160 Kilometer auf der neunten Etappe der Tour de France nach Roubaix, darunter 22 Kilometer über das gefürchtete Kopfsteinpflaster. Sie nennen diese Tortur im Nordosten Frankreichs auch die Hölle des Nordens.

John Degenkolb hat diese Hölle immer geliebt, die Rüttelpartie über die Pflastersteine, die die meisten Radprofis in etwa so schätzen wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Er hatte den Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix vor drei Jahren schon mal auf seine Seite gezerrt, quasi die Originalauflage dieser Pflasterquälerei. 2016 wurde Degenkolb im Training fast totgefahren, es war nicht klar, wie und ob er überhaupt in den Radsport zurückfinden würde. Aber er blieb hartnäckig, kehrte früh - vielleicht zu früh - zurück, steckte viele Rückschläge weg, fand gut in diese 105. Tour de France. Am Sonntag bündelte er all sein Können, sein Faible für die Schüttelpartie, seine gute Form zum bislang wohl denkwürdigsten Auftritt seiner Karriere. Er blieb in der Spitzengruppe, während es viele Favoriten für das Gesamtklassement schüttelte und zerbröselte, Rigoberto Uran, Romain Bardet, Vincenzo Nibali; der Australier Richie Porte musste die Tour gar beenden. Degenkolb setzte sich rund 30 Kilometer vor dem Ziel mit zwei Mitstreitern ab, Greg Van Avermaet, der das Gelbe Trikot behauptete, und Yves Lampaert. Zu dritt bogen sie auf die Zielgerade ein, aber als der 29 Jahre alte Deutsche antrat, da wusste man sofort, dass ihn diesmal niemand aufhalten würde.

Es war der 89. deutsche Etappensieg bei der Tour und Degenkolbs erster, er war zuvor sechsmal Zweiter geworden. "Ich hatte eine unfassbare Zeit hinter mir", japste er im Ziel, seine Worte gingen in den Tränen unter, "meine Familie stand immer hinter mir. Ihnen das so zurückzugeben, ist das Beste, was es gibt."

Es war ein freudetrunkenes Ende einer ersten Woche, in der für die meisten deutschen Radprofis wenig nach Plan gelaufen war. Marcel Kittel war zum Auftakt in Fontenay als Dritter eingetroffen, seitdem ging es für den 30-Jährigen ständig bergab. Am Samstag, dem französischen Nationalfeiertag, schnupperte André Greipel in Amiens lange am süßen Duft des Tageserfolgs, dann verstrickte ihn Fernando Gaviria in eine Rangelei; die Jury stufte beide um 90 Plätze zurück. Kittel war als 15. wieder chancenlos, seine Helfer Rick Zabel und Tony Martin waren kurz vor dem Ziel gestürzt. Martin erlitt dabei einen Wirbelbruch, er wird den Rest der Tour und vermutlich auch die WM im kommenden Herbst verpassen.

Jubel über den ersten Tour-Etappensieg: John Degenkolb überquert in Roubaix die Ziellinie. (Foto: Stephane Mahe/REUTERS)

Katjuscha-Alpecin, Kittels Team, war in einer nervösen Stimmung in diese Tour gezogen. Kittel, einer ihr Topverdiener, hatte seit seinem Wechsel im Winter nur zwei Siege beschafft, die Tour sollte einen Klimawechsel herbeiführen. Stattdessen erhob Dimitrij Konischew, einer von Katjuschas Sportdirektoren, am Samstag in der französischen Sportzeitung L'Equipe eine erstaunliche Anklage: Man zahle Kittel "viel Geld, aber er denkt nur an sich selbst". Als Beweisführung schilderte Konischew die Sitzung vor dem Teamzeitfahren. Kittel habe "an seinem Handy herumgespielt und mich so wissen lassen, dass er nicht an meinen Anmerkungen interessiert ist". Konischew, das muss man dazu wissen, steht eher dem Russen Ilnur Zakarin nahe, Katjuschas zweitem Kapitän, der bei der Tour um die Gesamtwertung kämpft. Am Samstag ruderte Konischew wieder zurück: "Marcel stellt sich oft in den Dienst des Teams." Und die Sache mit dem Telefon? Ach, sagte Konischew, jeder hänge heute nur an seinem Handy, "das wahre Problem sind diese Smartphones". Und die Stimmung im Team sei sowieso gut.

Nach dem verkorksten Finale am Samstag wuchtete Kittel dann sein Fahrrad gegen den Teambus und schimpfte so laut durch den Wagen, dass die Flüche bis nach draußen zu hören waren. Am Sonntag sagte er: "Es ist schwer, da einen Schwamm darüber zu machen und zu sagen, es ist alles cool. Da kann sich jeder eine Meinung machen, wie das jetzt in mir aussieht."

Es war von vornherein klar, dass der 30-Jährige nicht wieder fünf Tagessiege sammeln würde wie im Vorjahr. Seine Helfer ziehen ihn noch immer nicht in die beste Position vor dem Sprint, so wie Kittel es 2017 bei Quick-Step gewohnt war. Aber solange Kittel der endschnelle Kittel war, machte ihm das gar nicht so viel aus, und diese Stärke führt er in diesem Jahr halt nicht mit sich. "Das Team arbeitet meistens sehr gut für ihn", sagte Konischew, "aber er ist derzeit wohl nicht bei 100 Prozent." Torsten Schmidt, Katjuschas Sportdirektor, der eher Kittel nahesteht, tadelte die Leistungen seines Zugpferds als "nicht das, was jeder erwartet hat". Kittel selbst gestand nach seinem mauen Auftritt am Freitag der ARD: "Du musst einfach die Beine haben, da hat es bei mir geklemmt." Eine Handvoll Chancen haben die erfolgsverwöhnten Sprinter indes noch, nach den Alpenetappen, die am Dienstag beginnen. Leichter wird das Unterfangen aber nicht, bei Katjuscha musste neben Martin auch Robert Kiserlovski bereits aufgeben.

Kittel, für 14 der 32 deutschen Siege seit 2011 zuständig, und Greipel haben so langsam auch mit einem Generationenwechsel zu kämpfen: Dylan Groenewegen, 25, gewann bislang zwei Etappen bei dieser Tour, wie Gaviria, 23, der Kittel bei Quick-Step ersetzt hat. Greipel mischt da derzeit noch kräftiger mit, am Samstag hatte er Pech, dass die Jury auch ihn bestrafte, obwohl Gaviria die Rangelei maßgeblich verursacht hatte. "Erst wird mir der Etappensieg und dann auch noch Platz zwei geraubt? Das ist schwer zu akzeptieren", sagte Greipel. Am Sonntag in Roubaix hing er erneut frustriert am Teambus, er hatte sich lange in der Spitzengruppe gehalten, war bei Degenkolbs Ausreißversuch aber chancenlos gewesen.

Am Montag fliegen die Radprofis nach Annecy, und es gibt wohl keinen, der den ersten Ruhetag so genießen dürfte wie Degenkolb. Was 160 Kilometer, ein Tag, ein Moment im Licht so alles ausmachen.

© SZ vom 16.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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