Tour de France:Dieser verflixte Gesamtsieg

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"Ich habe keinen Vertrag mit meinem Vaterland" - der französische Radprofi Romain Bardet zur Erbschaftsdebatte um den Tour-Sieg. (Foto: REUTERS)
  • Romain Bardet soll in diesem Jahr bei der Tour de France Frankreichs Sehnsucht stillen - und erstmals nach 33 Jahren wieder für einen Heimsieg sorgen.
  • Vor dem Auftakt in der Vendée, in La-Roche-Sur-Yon, feiert die Tour sich selbst - und seinen Hoffnungsträger.
  • Titelverteidiger Chris Froome wird bei der Vorstellung vom Publikum ausgebuht und niedergepfiffen.

Von Johannes Knuth, La-Roche-Sur-Yon

Wie es sich wohl anfühlt, wenn einem die ganze Nation ihre Sehnsüchte auf die Schultern schnallt? Romain Bardet lässt sich in diesen Tagen wenig anmerken. Er lächelt verlegen, als der Moderator am Donnerstag, bei der Fahrerpräsentation, in einen bedeutungsschwangeren Ton fällt. Romain, raunt er, du warst Zweiter bei der Tour, letztes Jahr Dritter - reicht es diesmal für ganz vorne? Bardet schaut freundlich aus seinen grünen Augen ins Publikum, ein paar rufen seinen Namen, als wollten sie ihm noch ein bisschen Glück auf die Bühne hinaufschicken. "Ich werde mit viel Freude an die Sache herangehen", antwortet Bardet, mal schauen. Dann lächelt er verlegen, wie ein Bube vor der Weihnachtsbescherung, der noch nicht sicher ist, ob sein großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

Klappt es dieses Jahr mit diesem verflixten Gesamtsieg, endlich?

Die Tour feiert ihren Auftakt (und sich selbst) diesmal in der Vendée, in La-Roche-Sur-Yon auf dem Place Napoleon, der geduldig das Eventgewitter über sich ergehen lässt. Der Platz ist umzingelt von beigegetünchten Häusern, Cafés, Geschäften, jeder hat irgendein Radsportexponat ins Fenster gelegt. In einem Fotoladen steht ein Poster von der Tour 1948, der Fahrer darauf trägt das gelbe Trikot des Führenden, er macht ein Gesicht, als erhalte er gerade die letzte Ölung. Es wirkt immer etwas überzeichnet, aber es ist nun mal so, die Tour gewinnt man nur unter grausamen Schmerzen. Das hat die Franzosen an ihrer Rundfahrt immer gegruselt und fasziniert, vor allem Letzteres.

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Die 105. Auflage beginnt, anders als in den Vorjahren, in Frankreich und verzichtet auf lange Ausflüge ins Ausland. Das passt ganz gut zur Sehnsucht, die wieder schwer über dem Land liegt. Frankreich wartet seit Bernard Hinault auf einen Sieger beim Heimspiel, seit 33 Jahren, und weil Bardet wieder der einzige Kandidat ist, laden sie ihre Hoffnungen eben auf seinen schmalen Schultern ab, Hoffnungen so groß wie Pyrenäenmassive. Bardet ist 1,84 groß und 64 Kilo leicht, hohe Stirn, schwarze Haare, er ist ein ausgezeichneter Kletterer. Er wurde Dritter bei der Dauphiné Anfang Juni, der Generalprobe, sie haben das Team noch mehr auf ihn zugeschnitten. "Wir sind als Team gereift, das wird ihm helfen", sagt Vincent Lavenu, Bardets Teamchef bei AG2R La Mondiale. Jeder Schritt seines Kapitäns wird in diesen Tagen protokolliert, jede Personalie vermeldet - dass Tony Gallopin noch fit geworden ist nach einem Rippenbruch, ein wichtiger Helfer für das Teamzeitfahren am Montag, das Bardet nicht liegt. Diesmal soll alles klappen. Einen Plan B haben weder das Publikum noch sein Team.

Ach ja, Die Konkurrenz? "Die war noch nie so stark", findet Bardet

Frankreich und seine Tour, das ist immer auch die Geschichte eines nationalen Kulturerbes, dessen Helden jedes Jahr aufs Neue zelebriert werden. Da war Eugène Christophe, 1913 als Erster am Gipfel des Tourmalet, in der Abfahrt brach die Radgabel. Christophe trottete 14 Kilometer zur nächsten Schmiede, wo er zwei Stunden sein Rad reparieren musste, fremde Hilfe war verboten. Oder Jacques Anquetil, der Erste, der die Schleife fünf Mal gewann. Bernard Hinault, der 1985 seinen fünften Sieg schaffte, ist der bislang letzte in der Linie der großen Meister. Das ist die Erblast, unter der seit 33 Jahren noch jeder potenzielle Nachfolger zusammenbrach. Held wird man nur unter Schmerzen.

Bardet, 27, moderiert diese Erbschaftsdebatte bislang erstaunlich gefasst. "Ich habe keinen Vertrag mit meinem Vaterland", hat er im Vorjahr gesagt; und die Suche nach dem Nachfolger, "das ist nicht meine Geschichte", findet er. Seine eigene geht so: aufgewachsen in der Auvergne, ausgebildet am Leistungszentrum seiner Equipe in Chambéry, Profi seit 2012. Er gewann 2015 seine erste von drei Tour-Etappen in den Bergen, seitdem hat er sich massiv verbessert (ein bisschen zu massiv, wie manche Beobachter finden). Seine schmale Statur täuscht über seine Unerschrockenheit hinweg, er attackiert schon mal in einer Abfahrt. Er hat vor dieser Tour noch mal an vielen Kleinigkeiten getüftelt, vor allem dem Zeitfahren, das ihm als leichter Bergfahrer nicht liegt. "Wir sind ambitioniert, aber auch demütig", sagt er unter der Woche, "deine Form trägt dich nicht allein durch diese drei Wochen. Es geht auch um den Kopf und etwas Glück."

Ach ja, Die Konkurrenz? "Die war noch nie so stark", findet Bardet. Er denkt da an Rigoberto Uran, Vincenzo Nibali, Richie Porte, Nairo Quintana, Chris Froome natürlich, der Titelverteidiger, der wieder das stärkste Team um sich versammelt hat. Und der Kurs ist so gemein wie lange nicht. Da sind die Kopfsteinpflaster vor Roubaix, die die Gesamtwertung am neunten Tag aufwühlen dürften. Die Kehren von Alpe D'Huez. Eine Art Bergsprint, 65 Kilometer durch die Pyrenäen. Ein hügeliges, 31 Kilometer langes Einzelzeitfahren, das Bardet nicht so sehr schaden dürfte, wie Zeitfahren es sonst tun. Die Teams dürfen diesmal auch nur acht Fahrer mitnehmen, was die Sicherheit erhöhen soll, tatsächlich aber vor allem die Chancen der Teams rapide mindern dürfte, sobald ein Helfer ausfällt. Sie würden bei der Tour nie zugeben, dass die Route für Bardet gestrickt wurde. Was man aber sagen kann, ohne dass es zu landesweiten Gewerkschaftsstreiks kommt: dass sie einiges getan haben, damit Froome und Sky nicht gewinnen.

Froome rollt am Donnerstag übrigens kurz nach Bardet auf die Bühne, "Great to see you, Chris!", ruft der Moderator, der aussieht wie eine gesündere Version von John Travolta. Das Publikum? Pfeift Froome nieder, man sieht viele nach unten geneigte Daumen, wie im alten Rom.

Der 33-Jährige war am Montag vom Rad-Weltverband UCI von einem knapp zehn Monate währenden Dopingverdacht freigesprochen worden. Doch die vermeintlichen Erklärungen, die der Brite, sein Team Sky und die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) unter der Woche anbieten, werfen jedes Mal neue Fragen auf. Der Salbutamol-Test, der bei Froome einen erhöhten Wert ermittelt hatte, sei fehleranfällig, richtet der zuständige Wissenschaftler aus - aber warum erst jetzt, nachdem viele Fahrer verurteilt wurden? Und ist Froomes Überdosis wirklich auf den Test zurückzuführen?

Eigentlich hätte er das mithilfe einer Studie beweisen müssen, die erließ ihm die Wada aber (im Gegensatz zu Diego Ulissi, der neun Monate gesperrt wurde). Froomes Team trägt bei seiner Pressekonferenz wenig Erhellendes bei, es wirft dafür einen Film an die Wand, der davon handelt, wie Sky die Ozeane vor Verschmutzung bewahrt.

Offener Brief von Froome

Die meisten Profis kritisieren unter der Woche die lange, intransparente Urteilsfindung der Behörden in diesem Fall. Aber sie sehen es auch wie Bardet, der Froome zuletzt scharf kritisiert hat, weil der während des schwebenden Verfahrens weitergefahren war: "Wir müssen das Urteil akzeptieren", sagt Bardet, "das gilt auch für die Zuschauer."

Die Skepsis kann das bei der Teampräsentation nicht ersticken. Als Froome die Bühne verlässt und auf einen Parcours durch die Innenstadt einbiegt, fährt er durch ein Meer an Buhrufen. Am Tag danach wendet er sich in einem offenen Brief ans Publikum: "Irgendein Rennen auf einer Lüge basierend zu gewinnen", schreibt Froome, "wäre für mich eine persönliche Niederlage."

Romain Bardet fährt übrigens kurz zuvor durch den Parcours. Er wird bejubelt, als hätte er die Tour bereits gewonnen.

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© SZ vom 07.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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