Tour de France:Der Fußgänger vom Ventoux

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Wo bleibt denn nur mein Ersatzrad? Der Radprofi Christopher Froome macht sich vorsichtshalber schon mal zu Fuß auf den Weg ins Ziel. (Foto: Jean-Paul Pelissier/Reuters)
  • Wenige Kilometer vor der Bergankunft der zwölften Etappe am Mont Ventoux stürzt der Gesamtführende, Christopher Froome.
  • Weil sein Rad kaputt ist, läuft er zwischenzeitlich zu Fuß in Richtung Ziel.
  • Nur durch einen Jury-Entscheid zu seinen Gunsten behält er das Gelbe Trikot - die Etappe gewinnt der Belgier Thomas De Gendt.

Von Johannes Aumüller, Mont Ventoux

Am Ende dieses außergewöhnlich dramatischen Tages steht der Brite Christopher Froome im Zielbereich, als sei gar nichts passiert. Er steht da wie schon in den vergangenen Tagen im Gelben Trikot, er wirkt erleichtert, fast schmunzelt er, und ganz lässig kann er Rennsport-Weisheiten wie diese zum Besten geben: "Der Ventoux steckt voller Überraschungen." Ja, er steckt voller Überraschungen, und an diesem 14. Juli offenbart er eine Überraschung, nach der Froome erst einmal glauben muss, sein Leader-Shirt sei verloren und die Chance auf die Wiederholung des Tour-Sieges reduziert. Doch eine halbe Stunde nach der Etappe verkündet die Jury, dass Froome das Gelbe Trikot behalten darf.

All das Surreale, was auf den letzten Kilometern passiert ist, ist zwar passiert und wird künftig viele Berichte über die Tour zieren, aber für die Gesamtwertung 2016 ist es irrelevant. Es ist ein Schauspiel, das sich in allen Details kaum rekonstruieren lässt. Drei Fahrer haben sich aus der Gruppe der Favoriten gelöst, neben Froome der Australier Richie Porte und der Niederländer Bauke Mollema, es geht in die letzten Kilometer des Ventoux, vor ihnen fährt ein Motorrad, aber der Weg in der Mitte wird enger und enger, von links und rechts drängen die Zuschauer auf die Straße, und plötzlich muss das Motorrad abbremsen. Das Trio kracht hinein, von hinten rammt ein weiteres Motorrad ihre Velos. Mollema kann direkt weiterfahren, Porte bleibt erst mal liegen.

Und Froome? Kurz nach dem Zusammenstoß sitzt er wieder auf seinem Rad, offenkundig ist es kaputt, auf jeden Fall stellt er es ab und läuft tatsächlich zu Fuß weiter, der Mann in Gelb sieht aus wie ein Marathonläufer, nur läuft er halt auf seinen rutschigen Radschuhen, das wirkt so ungemein mitleiderregend und komisch zugleich. Dann greift sich Froome ans Ohr, er kommuniziert mit seinem Teamchef, irgendwann kommt der neutrale Materialwagen, Froome erhält ein Rad, das ist zwar hübsch gelb lackiert, aber es passt überhaupt nicht zu seiner Statur, er strampelt darauf ein paar Meter, richtig hilflos sieht das aus. Entnervt stellt er es ab, sein eigenes Teamfahrzeug bringt ihm ein passendes Velo, und dann endlich kann er weiterfahren bis ins Ziel.

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1913 rutschte der Franzose Eugene Christophe einen Teil des Wegs auf dem Hosenboden hinunter

Fast sieben Minuten liegt er da hinter dem Tagessieger Thomas de Gendt (Lotto) aus Belgien, dem glücklichen Finisseur einer großen Fluchtgruppe, aber das ist irrelevant. Entscheidend ist, dass er durch den Sturz auf die restlichen Favoriten viel Zeit eingebüßt hat, das provisorische Klassement nach der Etappe führt den Briten Adam Yates knapp vor Mollema, Froome liegt demnach 53 Sekunden zurück. Aber es dauert nicht lange, bis die Jury das korrigiert. Sie wertet Froome und Porte mit der Zeit, die Mollema im Ziel erreichte. Jetzt liegt der Brite vor dem Zeitfahren am Freitag wieder vorne, vor Yates (+47), Nairo Quintana (+54) und Mollema (+56).

Als "gerecht" bezeichnen das Urteil die meisten. Gerecht, was ist schon gerecht? Ist denn gesagt, dass Froome auf dem letzten Kilometer Mollemas Tempo hätte halten können? Sind nicht auch die nachfolgenden Favoriten durch den Motorrad-Sturz um Sekunden gebracht worden? Aber wahrscheinlich ist das Jury-Verdikt die sinnvollste Lösung in dieser Situation.

Die Geschichte der Tour ist 113 Jahre alt, sie ist reich an Kuriositäten und Dramen, aber so etwas wie am Donnerstagnachmittag hat es noch nicht oft gegeben. 1913 erreichte mal der Franzose Eugene Christophe als Erster den Tourmalet, auf der Abfahrt brach ihm kurz nach dem Gipfel die Radgabel, Begleitwagen und Ersatzräder gab es noch nicht, so ging er zu Fuß hinunter, auf dem Hosenboden rutschend kürzte er weite Kehren ab, erst unten im Tal in Sainte-Marie-de-Campan reparierte er in einer Schmiede sein Velo. Damals waren die Kommissäre noch nicht so nett drauf wie heute: Sie brummten Christophe eine Strafe auf, weil beim Schmieden ein Dorfjunge den Blasebalgen bewegt hatte. Aber viel mehr gibt es selbst in 113 Jahren Tour nicht, was Froomes Drama am Mont Ventoux toppt.

Die Masse, die sich sonst auf 15,7 Kilometer verteilt, drängt sich nun auf 9,7 Kilometern zusammen

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Die große Quälerei endet im Chaos Als zwei Belgier schon im Ziel sind, muss der Tour-Führende plötzlich zu Fuß weiter - ein Jury-Urteil hilft ihm mit dem Gelben Trikot.

Und angesichts des Verlaufs der Rundfahrt bis dahin wirken die Bilder besonders gemein. Froome hat die Tour zwar nicht übermäßig, aber auf seine Art doch dominiert. Erst hat er sich auf der ersten Pyrenäen-Etappe mit einem risikoreichen Abfahrtsmanöver einige Sekunden herausgeholt. Dem hat er durch eine überraschende Attacke auf dem windanfälligen Abschnitt nach Montpellier am Mittwoch ein paar weitere Sekunden hinzugefügt. Und dann hatte er auch die Ventoux-Etappe lange Zeit im Griff. Die Attacken seines wohl ärgsten Konkurrenten Quintana ließ er cool durch die eigenen Teamkollegen kontern, und irgendwann strampelte er selbst so schnell, dass nur noch Mollema und Porte an seinem Hinterrad bleiben konnten. Der Berg war diesmal nur in einer verkürzten Variante zu bewältigen. Der Wind auf dem Gipfel war zu stark, mehr als 100 Kilometer pro Stunde, deswegen strichen die Organisatoren kurzfristig die letzten sechs baumlosen, hitze- und windanfälligen und deswegen besonders ekligen Kilometer, und verlegten das Ziel nach unten, zum Chalet Reynard, in 1432 Meter Höhe.

Aber es war wohl auch diese Verkürzung der Strecke, die den Sturz beeinflusste. Es sind ja nicht weniger Menschen an den Mont Ventoux gekommen, nur weil die Strecke um ein paar Kilometer kürzer ist. Also drängten sie sich weiter unten in immer dichteren Reihen an die Strecke, die Masse, die sich normalerweise auf 15,7 Kilometer verteilt, verteilte sich nun auf 9,7 Kilometer. Auf den letzten Kilometern fehlten auch die obligatorischen Absperrgitter, die Menge schob sich auf die Strecke. Und auf einmal bremste ein Motorrad.

© SZ vom 15.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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