Skispringen:Gold im Turm

Lesezeit: 3 min

Niederlagen, Reifeprozess, nun die erste große Medaille: Die Geschichten von Daniel Andre Tande und Richard Freitag ähneln sich - und sie sind beide Favoriten für Olympia.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf/München

Die Finalisten saßen in knapp 70 Metern Höhe und konzentrierten sich. Im Aufwärmraum der Skiflugschanze von Oberstdorf absolvierten sie das übliche Kopf-Programm, das dazu dient, den Kopf abzuschalten. Es ging um den letzten Durchgang, um den Sieg, also: fokussieren, meditieren, Musik hören, Schokoriegel kauen. Die Zeit verstrich, die Schneeflocken pfiffen am Turmfenster vorbei, die Spannung stieg, da platzte jemand mit der neuesten Nachricht herein für Daniel Andre Tande, Kamil Stoch und Richard Freitag: Der Wettkampf ist vorbei, ihr seid schon die Sieger.

Das ist das Besondere am Skisprungsport, speziell auch am Skifliegen: Er steckt voller Überraschungen, nicht nur für den Zuschauer, auch für den Sportler selber. Weil der Wind am Samstag nicht mehr nachließ, strich die Jury den vierten Durchgang der Skiflug-Weltmeisterschaft. Nach drei Flügen war somit der führende Norweger Tande Weltmeister, der Pole Stoch Silber-Gewinner, und der Wahl-Oberstdorfer Freitag hatte Bronze gewiss. Für den Vielfachsieger Stoch war dieses Silber vergleichsweise gewöhnlich, bei Tande und Freitag aber ging auf recht profane Art der erste ganz große Traum in Erfüllung.

Weit nach unten, und über die grüne Linie: Daniel Andre Tande, 23, trotzt in Oberstdorf am besten dem Rückenwind. (Foto: Matthias Schrader/AFP)

Denn für den 23-jährigen Norweger ist dieses Gold die erste Einzelmedaille, dasselbe gilt für den 26-jährigen Deutschen und seine Bronzemedaille. Beide hatten schon vor Jahren erste Weltcuperfolge und auch Teammedaillen geholt, sie galten als künftige Gewinner und mussten doch nach schweren Niederlagen wieder von vorne anfangen. Dass sie bei all dem unterschiedliche Charaktere sind, zeigte sich nach der abrupten Überbringung der frohen Nachricht im Aufwärmraum: Tande kamen die Tränen, Freitag sagte über einen eventuellen Gefühlsansturm: "Bei mir war es so eher überhaupt nicht."

Der Mann aus Erlabrunn im Erzgebirge wirkt meist sachlich und beherrscht, weder Sorgen noch Glücksgefühle teilt er der Öffentlichkeit sonderlich mit. Freitag lächelt viel, aber er verarbeitet die Probleme seines Sports eher im Stillen und belässt es dann auch dabei. Und wenn er sein großes Ziel dann beim Aufwärmen erreicht, weil plötzlich gesagt werde, "okay, du hast 'ne Medaille", dann brechen bei Freitag nicht unmittelbar Gefühlsstürme los.

Kein vollbreites Lächeln trotz Weltmeister-Medaille: Daniel Andre Tande. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Was die Bedeutung dieses Resultats für ihn nicht schmälert. "Die Medaille ist grandios und extrem wertvoll für mich", sagte er mit etwas Abstand. Er hat auf seine stille Art im Herbst sein Gleichgewicht gefunden, und es ist offenbar so stabil, dass es auch durch den Sturz bei der Vierschanzentournee nicht zu erschüttern war. In Innsbruck war er nach der Landung gefallen, hatte sich die Hüfte geprellt, aber den hartnäckigeren Schaden befürchtete man fürs Selbstvertrauen. Freitag zog sich nach Oberstdorf zurück, ging zunächst nicht auf die Schanze, sondern brachte seinen Körper in Form. Den ersten WM-Probesprung nach zwei Wochen landete er dann gleich bei über 200 Meter, den ersten Wettkampfflug bei 228 Meter. Er hielt zunächst Rang zwei hinter Tande, verlor diesen Platz aber in einer Rückenböe im dritten Sprung an Stoch, der in solchen Verhältnissen doch noch stabiler ist. Freitag hatte schon manche Formkrise, an der er selber lange rätselte, nun überraschte dieses Sturz-Comeback auch seinen Bundestrainer. Werner Schuster sagte: "Mental war das eine der größten Leistungen, die ich bislang gesehen habe."

Daniel Andre Tande, Freitags Bezwinger, war ebenfalls gestürzt, aber schon vor einem Jahr, und man kann sich sehr lange mit ihm darüber unterhalten. Genauer gesagt war er ja gerade noch auf den Skiern geblieben bei seiner Landung 2017 in Bischofshofen, aber die Vorstellung dessen, was hätte passieren können, wirkte noch lange in ihm und sei sehr schmerzhaft gewesen, sagt er. Tande hatte vergessen, seinen Bindungsstift zu schließen, er hatte Glück, dass er seinen Ski nicht in der Luft verlor. Auch damals weinte er heftig, wohl weil er begriff, dass er zwar gerade die Vierschanzentournee verloren hatte, aber doch mit dem Schrecken davon gekommen war. Ein Jahr später sagt Tande, er begebe sich nicht mehr in so einen Tunnel, in dem er nur noch den Sieg sieht und nicht mehr solche Detail-Aufgaben wie das Sichern einer Bindung: "Meinen Fehler zu akzeptieren, hat mich stark gemacht."

Für die Norweger spielt Tande eine ähnlich wichtige Rolle wie Stoch und Freitag für ihre Mannschaften. Obwohl sich die Slowenen im Team-Wettbewerb am Sonntag steigerten und vor Polen und hinter Norwegen Silber holten, obwohl die Deutschen das Podest knapp verpassten, bleiben die drei mit den Einzelmedaillen die Favoriten für Olympia in drei Wochen. Sie alle haben ihre Tiefs überwunden: Tande hat sich seinen Fehler verziehen, Stoch hat seine kurze Erschöpfungsphase nach dem Vierschanzen-Grand-Slam vor zwei Wochen überwunden und Richard Freitag hat seinen Sturz auch selber gekontert. Das, vermutet Schuster, gibt ihm weiteren Auftrieb vor dem Saisonhöhepunkt: "Die Medaille kann der Türöffner für mehr sein."

© SZ vom 22.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: