Ski:Weltklasse im Konjunktiv

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"Die ganze Kulisse, die vielen Leute, des isch der Wahnsinn." - Jessica Hilzinger beim Riesenslalom in St. Moritz. (Foto: Jean-Christophe Bott/dpa)

Jessica Hilzinger, 19, vom Oberstdorfer Ski-Gymnasium bringt alles mit, um im Weltcup zu reüssieren. Nun bangt sie um ihr Knie.

Von Matthias Schmid

Jessica Hilzinger wird in diesem Jahr die Schule beenden, mit dem Abitur, wenn alles so klappt, wie sich die 19-Jährige das vorstellt. Der Übergang in die Berufswelt wird fließend verlaufen. Die Oberstdorferin weiß ja schon, was sie werden will: professionelle Ski-Rennläuferin. Hilzinger gehört zu den begabtesten deutschen Fahrerinnen, sie hat sich bereits mit dem arbeitsintensiven Alltag vertraut gemacht.

Kaum ein Arzt hat sich an ihren Knorpelschaden herangetraut

Sollte es wider Erwarten nicht klappen mit ihrem großen Ziel, dann könnte sie immer noch ein Medizinstudium aufnehmen. Sie hätte gegenüber ihren Kommilitonen einen gewaltigen Wissensvorsprung. Denn wenn Hilzinger über ihre Verletzungen spricht, hört sie sich an wie eine Orthopädin mit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Sie erklärt dann so selbstverständlich Begriffe wie "Bone bruise", "freier Gelenkkörper" oder "Tibeakopffraktur", als würde sie selbst vor Studenten stehen und eine Vorlesung in Sporttraumatologie halten. Obwohl Hilzinger erst 19 Jahre alt ist, füllt sie schon eine dicke Krankenakte. Ein kurzer Auszug: Knorpelschaden zwischen Schien- und Wadenbeinkopf, Knochenprellung samt kleinster Brüche.

Im April des vergangenen Jahres riss sie sich noch das Innenband im rechten Knie, nachdem sie gerade wieder genesen war. "Das war megadeprimierend", gibt Hilzinger zu. Sie steht im Zielraum vom Salastrains, oberhalb von St. Moritz. Sie hat bei der alpinen Ski-Weltmeisterschaft den Slalom auf dem 22. Platz abgeschlossen, als eine der jüngsten Starterinnen. "Megahappy" sei sie, sagt Hizinger. Sie setzt gerne ein "Mega" vor ihre Wörter.

Ihre Kniebeschwerden begleiten sie schon seit drei Jahren. Sie sind so kompliziert, dass sich kaum ein Arzt an den Knorpelschaden herangetraut hat. "Niemand in Deutschland wollte das operieren", erzählt sie, "weil es keine Garantie dafür gibt, dass es besser wird." Die konservative Behandlung schlägt bisher an. Das Knie hält nun schon seit einigen Monaten. "Durch den Innenbandriss ist die alte Geschichte besser geworden", sagt Hilzinger, "weil sich das Schienbein verschoben hat." Sie hat weniger Schmerzen. "Ich hoffe, dass es so gut bleibt, dann könnte ich endlich mal das komplette Sommertraining mitmachen."

Der Deutsche Ski-Verband (DSV) nahm Hilzinger mit zur WM in die Schweiz, obwohl sie die Qualifikationsnorm nicht erfüllt hatte. "Wir wollten, dass Jessica Erfahrung sammelt bei einem Großereignis", erklärt Wolfgang Maier. Dem deutschen Alpindirektor war es wichtig, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass hoffnungsvolle Talente nachkommen. "Dass nicht alles sinn- und perspektivlos bei uns ist", wie er es ausdrückt. Der Frauensparte blieb in St. Moritz eine Medaille verwehrt. Jessica Hilzinger könnte irgendwann in die Rolle einer Medaillenkandidatin hineinwachsen. "Sie hat sehr viel Potenzial und ist eine richtig Gute", lobt Maier.

Es kommt nicht so oft vor, dass er junge Skifahrerinnen mit solch großen Worten lobt. Doch bei Hilzinger macht er eine Ausnahme, weil sie schon mit 18 Jahren angedeutet hat, dass sie alles mitbringt, um eines Tages im Weltcup reüssieren zu können. Bei ihrer Premiere im November 2015 landete sie im Slalom auf Anhieb auf dem 25. Rang, ehe größere und kleinere Verletzungen ihren Aufstieg erst einmal jäh stoppten. Deshalb muss man auch abwarten, wie ihr Körper, speziell ihr Knie, auf die steigenden Belastungen reagieren würde. Sie bleibt daher erst einmal eine Weltklassefahrerin im Konjunktiv.

Es ist erstaunlich, wie abgeklärt sie mit ihrer Krankengeschichte umgeht. Vor dieser Saison hatte sie ein Jahr lang an keinem Rennen teilnehmen können. Erst im Dezember fuhr sie wieder die ersten Wettkämpfe, sie begann in der untersten Kategorie, bei den Fis-Rennen, sie gewann gleich einen Riesenslalom wie später auch im zweitklassigen Europacup und empfahl sich so noch für die WM.

"Es war megacool, dass ich dabei sein durfte", sagt Hilzinger. Als sie im Slalom im zweiten Durchgang mit Bestzeit über die Ziellinie fuhr, jubelten ihr die Zuschauer zu. "Die ganze Kulisse, die vielen Leute, des isch der Wahnsinn", sagte sie hinterher und klang in ihrem Allgäuer Idiom beeindruckt. Dabei gibt sie sich gerne unbeeindruckt, reifer, als ihr Alter vermuten ließe.

Vielleicht hatten sich in St. Moritz auch einige an ihren Namen erinnert. Hilzinger ist in der Schweiz geboren und in Liechtenstein aufgewachsen, im Land ihrer Mutter. Beim Skiclub Schaan hinterließ sie schon mit eineinhalb Jahren ihre ersten Spuren im Schnee. Doch nachdem sie und ihr deutscher Vater, ein Skitrainer, merkten, dass sie im Liechtensteiner Skiverband nicht so gefördert wurde, wie die beiden sich das erhofften, wechselte Hilzinger vor drei Jahren aufs Skigymnasium nach Oberstdorf.

Den Wechsel zum Deutschen Ski-Verband hat sie nie bereut

Ein Jahr später schloss sie sich dem Deutschen Ski-Verband an. "Ich habe den Entscheid nie bereut", sagt Hilzinger, "weil ich hier einfach ein professionelles Umfeld und mehr Möglichkeiten habe." Manchmal kommen ihr noch Schweizerdeutsche Wörter über die Lippen. Im DSV sind sie froh, dass Hilzinger für sie fährt. Hochbegabte Skifahrerinnen sind rar. Hilzinger soll bald auch schon schnellere Disziplinen fahren, Super-G und Abfahrt. Überstürzen wollen sie aber nichts, das Knie bestimmt das Tempo. "Jessica ist eine wertvolle Fahrerin", sagt Wolfgang Maier. Er hofft nicht, dass sie bald ein Medizinstudium aufnehmen muss.

© SZ vom 22.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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